Schattenblüte. Die Erwählten
einem Baumstumpf gesessen und mit einem Stab in den Flammen gestochert. Jetzt liegt er dort als schwarzer Wolf, die Pfoten an den Leib gezogen, und sieht zu, wie die Glut knisternd und knackend das Holz verzehrt. Er hört mich sicher kommen, aber er dreht nicht den Kopf, nur seine Ohren zucken.
Eine Krähe hüpft näher, fast als wollte sie mir folgen. Als ich mich neben den struppigen Wolf setze, knurrt er leise, erhebt sich, streckt seine Pfoten, bis sie zu Armen und Beinen werden, und ist Mensch. «Hallo, Shorou», brummt er, schlingt den einen Arm um sein angezogenes Knie und greift mit der anderen Hand nach meinen Haaren. Dreht eine meiner farblosen Strähnen zwischen seinen Fingern. «Du bist ja noch immer eine Werwölfin. Gefällt es dir so gut?»
Ich ziehe ihm meine Strähne aus der Hand. «Die Rückverwandlung hat nicht funktioniert.»
«Ich dachte, gerade du wüsstest, wie es geht. Hattest du nicht Sjölls Gedicht, in dem alles steht?»
«Wir haben alles richtig gemacht.» Ich drehe einen kleinen Tannenzapfen zwischen meinen Fingern, werfe ihn in die Glut, wo er erst knisternd trocknet und dann nach wenigen Atemzügen in Flammen aufgeht. «Meinst du, Thursen weiß meinen Namen nicht?»
Im nächsten Moment wird mein Tannenzapfen von einem zur Seite geschubst, den Norrock geworfen hat. «Vielleicht hast du ihn die ganze Zeit, die ihr euch kennt, verarscht?»
«Ich finde deine Witze so was von daneben! Verstehst du nicht? Ich bin immer noch eine Werwölfin und kein Mensch.»
«Willkommen zurück im Rudel, Werwölfin. Dann bleibst du jetzt bei uns?»
«Wo soll ich denn wohl sonst hin?»
«Was ist mit Thursen?»
«Er will auch bleiben.»
Norrock nickt. «Und zusehen, wie du zum Wolf wirst und er nicht. Verdammte Scheiße.»
«Du kannst ja Sjöll auch nicht loslassen, dabei ist sie tot.»
«Das ist was anderes. Sjöll ist Sjöll. Trotzdem war klar, dass Thursen sich so entscheiden würde. Er wollte schon lange nicht mehr ohne dich leben. Wie, ist da nicht so wichtig. Bist du deshalb wach, wegen der Sache mit Thursen?»
«Nein. Ich habe von meinem Bruder geträumt.» Zum hundertsten, tausendsten Mal. Er weint, er ist allein, ich habe ihn verlassen. Mit der Erinnerung an mein altes Leben sind auch die Träume wieder da. Ich folge Norrocks aufmerksamem Blick und sehe meine Hände zittern. Ich hatte es gar nicht bemerkt.
Mit einer wolfsähnlichen, geschmeidigen Bewegung kommt er auf die Beine. «Lass uns zu den Bäumen gehen. Da ist Platz für Trauer. Ich muss sowieso Sjölls Licht wechseln.»
Er hält mir seine Hand hin, doch ich stehe lieber ohne Hilfe auf.
«Als Wolf?», fragt er, als er eine Kerze für Sjölls Windlicht in die Jackentasche gesteckt hat.
Ich nicke und lasse mich in die Tiergestalt fallen. Ich folge Norrock und schmecke seinen Schmerz, seine Trauer, seine Wut in der Luft. Da, eine Wildschweinfährte. Frisch und deutlich im schneeigen Laub. Jagen? Keine Zeit jetzt. Norrock ist schon weiter. Knistern, ferne, links. Wir stoppen. Lauschen. Wittern. Keine Shinanim. Keine Menschen. Wir laufen weiter, bis zu den Trauerbäumen am früheren Lager, das noch immer nach altem Laub, uns Werwölfen und einem letzten bisschen Sjöll riecht.
Ich zwinge mich zurück ins Menschsein. Als Wolf sind es nur Bäume, Bäume mit Schnitten in der Rinde. Als Mensch sind sie so viel mehr. Die Bäume tragen die Namen der Toten, als würde der Wald in stillem Gedenken sprechen. Der Name auf dem neusten Trauerbaum, dem für Janok, der bei dem Kampf mit den Shinanim auf dem Teufelsberg starb, dunkelt schon. Ich weiß wieder, wie Mauriks, Haddrice, Thursen, Irudit und Zrrie jeder einen Buchstaben in den Stamm geschnitten haben. Wie Norrock ein Windlicht davorgestellt hat und gesagt hat, auch diesen Tod würden sie rächen.
Janoks Kerze verlosch. Es ist Sjölls Kerze, die brennen soll bis zu dem Tag, an dem die Rache an Nick vollendet ist. Norrock kniet schon vor dem Baum mit dem fast flachgeschmolzenen Kerzenrest im Glas. Sein Gesicht ist versteinert, und die Hand mit der Kerze darin zittert. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er an Sjöll, seine Sjöll, denkt oder dass es für ihn so ein Kampf ist, in menschlicher Gestalt zu bleiben.
Ich nicke Sjölls Baum zu wie einem alten Bekannten. Ich muss zu Fabis Baum. Vor ihm sinke ich auf die Knie, mitten zwischen die Blumen. Die bunten Blüten liegen dort, kalt und steifgefroren. Der Winter hält sie eine lange Weile frisch, doch diese Blumen sind nicht von
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