Schattenblüte. Die Erwählten
kennt, Shorou?»
«Ich weiß nicht. Für mich war er vom ersten Moment an etwas Besonderes.»
«Ich wette, Thursen weiß nicht, dass du hier bist.»
«Nein, er weiß es nicht, aber er wird es verstehen. Ich muss Fabi doch sagen, dass ich ihn nicht vergessen habe.»
«Vielleicht hat Fabi dich vergessen. Er ist immerhin schon eine Weile tot.»
«Das hat er nicht. Ich sehe ihn in meinen Träumen doch jede Nacht. Wo ist er?»
«Ich weiß es nicht. Er war nicht hier, als ich gekommen bin. Bestimmt ist er weitergegangen ins Licht wie die anderen Seelen.»
«Er ist nicht hier?»
Sjöll schüttelt traurig den Kopf. «Nein, Shorou.»
«Aber warum nicht? Du bist doch auch hier.»
«Ich bin als Wölfin gestorben. Ich bin an die Grenze gebunden. Siehst du den Tunnel dort? Die anderen gehen weiter, durch den Tunnel hindurch ins Licht.»
Dann ist das dort mein Weg. «Danke, Sjöll, vielen Dank. Schade, dass wir damals nicht mehr Zeit hatten, uns richtig kennenzulernen. Das wollte ich dir schon lange sagen.»
Sie weiß natürlich sofort, was ich vorhabe, und versucht mich aufzuhalten. Obwohl sie keinen festen Körper hat, stellt sie sich vor mich und hebt die Hände. «Nein. Du kannst dort nicht hin! Du kannst nicht!»
«Dort ist mein Bruder, Sjöll! So lange habe ich ihn vermisst. Weißt du, wie weh das tut? Es ist genug. Ich muss das tun!»
«Du darfst nicht gehen. Vielleicht kommst du nie zurück.»
«Ja, vielleicht nicht. Das weiß niemand, oder?»
«Und Thursen? Was ist mit ihm. Lässt du ihn zurück?»
«Ich bin eine Werwölfin, und er ist ein Mensch.»
«Und als ihr euch getroffen habt, war es andersherum. Doch du hast ihn zurückverwandelt, hat Norrock mir gesagt. Warum macht er es nicht bei dir?»
«Er hat es versucht!» Meine Augen brennen, und ich habe Mühe mit den nächsten Worten. «Genau wie in dem Gedicht, in dem das mit dem Namen erklärt wird. Doch bei mir hat es nicht funktioniert! Verstehst du: Er ist Mensch, und ich bin Werwolf für immer. Ich mache ihm das ganze Leben kaputt, wenn er bei mir bleibt. Er muss doch eine Freundin haben, die ihn liebt und bei ihm sein kann, und keinen verdammten, pelzigen Hund!» Ich nehme meine Kette ab. «Wenn Norrock das nächste Mal zu dir kommt, sag ihm, er soll Thursen die hier geben.»
Ich lasse die Kette neben sie auf einen Stein gleiten.
«Die ist von Thursen?»
«Ja», sage ich. Und gehe.
«Sag mal, ist die nicht aus Silber?», ruft Sjöll mir nach.
«Ja. So konnte ich sie als Mensch und als Wolf tragen. Denn Silber verwandelt sich nicht.» Meine Worte hallen an den Tunnelwänden nach. Und auch das knirschende Geräusch meiner Schritte wird zurückgeworfen. Hart und kalt hören sich meine Schritte an. Der letzte Tunnel in die Welt der Toten. Vielleicht komme ich nicht zurück. Und vielleicht ist es mir egal. Vielleicht will ich aber auch dortbleiben. So einen schnellen und schmerzlosen Pfad in den Tod finde ich nie wieder.
«Warte!»
Doch ich warte nicht. Noch ein Schritt, einfach ein Schritt weiter, dann bin ich auf einmal im Licht. In gleißendem, beißendem, grellem Licht, das mich sofort die Augen schließen lässt. Als würde ich an einem Hochsommertag direkt in die Sonne blicken. Und als ich mühsam blinzele, ist der Tunneleingang verschwunden. So wie man nicht aus einem hell erleuchteten Zimmer hinaus in den dunklen Garten sehen kann, so erkenne ich nicht, was um mich herum im Dunklen liegt. Ich strecke die Arme aus, spreize die Finger, die nichts ertasten. Nichts. Niemand. Keine Seele. Keine Wand, kein Ende, kein Weg hinaus aus diesem gleißenden Licht.
Sjöll hat recht. Ich kann nicht zurück.
So endet also mein Leben. Hell und ohne Schmerzen. Thursen wird es verstehen.
Mit tastenden Schritten beginne ich vorwärtszugehen, tiefer hinein in die andere Welt. Der Boden hier ist so weich. Er schluckt sanft das Geräusch meiner Schritte. Hier entlang ist es richtig, es fühlt sich so richtig an. Es kann nur diesen einen Weg geben. Diesen Weg, den Fabian gegangen sein muss. Wenn ich ihm folge, werde ich ihn finden. Werde ich endlich dort sein, wohin ich gehöre. Dann endlich wird das Sehnen aufhören, und der Schmerz in mir wird für immer gestillt sein. Es zieht mich. Hier ist der Weg für die Toten. Bin ich schon tot? Ich gehe weiter.
Schritt
für Schritt
für Schritt –
bis jemand meinen Namen ruft.
Mich
Mich ruft er.
Die Stimme, die eine Stimme, die ich direkt mit dem Herzen höre. Die Stimme lässt mich stehen bleiben,
Weitere Kostenlose Bücher