Schattenblüte. Die Erwählten
schwankend, unsicher. Dann, mit dem nächsten Atemzug, zerrt sie mich zurück ins kalte, dunkle, schmerzhafte Leben.
Bitte, ich will doch nicht!
Doch er ruft noch einmal.
«Komm! Komm zurück! Bitte!»
Thursens Stimme. Thursens einzigartige, warme, unüberhörbare Stimme.
«Komm zu mir!»
Nein, vielleicht muss ich nicht zu ihm. Doch ich treffe meine Wahl. Ich folge der Stimme, die mich überallhin leiten kann, auch hinaus aus dem grellen Nirgends. Ich schließe die Augen, lausche nur noch nach ihm. «Wo bist du?», rufe ich zurück mit einer kleinen, schwachen Stimme, die von den Wänden aufgesogen wird. Doch er hört mich trotzdem.
«Hier! Hier bin ich! Komm zu mir!»
Und auf einmal gibt es doch einen Weg zurück. Ich gehe ihn mit geschlossenen Augen wie eine Blinde und folge nichts als dem Klang seiner Stimme.
«Schnell!», drängt er mich.
Ich gehe zu ihm, bis meine vorgestreckten Arme ihn ertasten. «Thursen!»
Er drückt mich an sich, dass meine vor wenigen Tagen noch gebrochenen Rippen vor Schmerz schreien. «Mein Gott, ich dachte, ich hätte dich verloren!»
«Warum bist du hier? Du bist ein Mensch, das ist doch viel zu gefährlich!»
Als er mich loslässt und ich ihm ins Gesicht sehen kann, bemerke ich die Wunde quer über seiner Wange, dunkel und klebrig von Blut.
«Was ist das?»
«Du musst raus hier, schnell!» Er dreht mich und stößt mich vor sich her durch das Dunkel des Tunnels. «Mach, dass du rauskommst, Luisa Folkert!»
Was ist das? Ich fühle mich so fremd. Es brennt in mir.
Mir ist so zitterig, so übel. «Warte. Gib mir Zeit!»
«Du hast keine Zeit. Du weißt nicht, was da draußen los ist!»
«Was ist denn mit mir? Thursen?»
«Los, raus, das Silber hat dich gebannt. Nun ist es vorbei!», ruft Sjöll.
Ich bin wieder Mensch? «Thursen?»
Thursen krallt sich an der Tunnelwand fest. Offenbar wird er noch stärker gezogen als ich. Er löst eine Hand, stößt mich Richtung Ausgang, ich stolpere vorwärts. Vor mir ist das Tor. Eingerahmt in dunklen Nebel und steinerne Wände flimmert ein Waldstück. Dorthin müssen wir. Schnell. Und ich kann nicht denken. Kann gar nichts.
Noch ein Stoß in meinen Rücken, meine Beine bewegen sich wie von selbst, ich stolpere, schwanke, taumele und stürze nach zwei weiteren strauchelnden Schritten zu Boden. Ich bin draußen, tatsächlich draußen, atme Waldwinterluft. Stütze mich auf Hände und Knie, halte mich am Boden fest, denn ich fühle mich, als würde sich die Welt gleich um mich drehen, mich abrutschen lassen und ich ins Bodenlose stürzen. Die Welt dreht sich nicht, sie schwankt und kommt zum Stillstand. Oder bin ich das? Neben mir, da liegt jemand. Norrock. Schwer atmend. Er ist Wolf. Er riecht nach Blut und versengtem Fell.
Ich blinzele. Lausche. Etwas ist falsch. Keine Schritte hinter mir. Kein Knacksen der Zweige. Kein vertrauter Atem in meinem Nacken. Eine Krähe schreit. «Thursen?»
Wo ist er? Ich fahre herum. Ich finde Thursen nicht. Die Sonne geht auf hinter den Bäumen, und der Nebel ist verschwunden, als wäre er nie da gewesen.
Da ist kein Tor mehr. Kein Tor mehr, aus dem jemand herauskommen kann.
«Wo ist Thursen?», flüstere ich.
«Wo ist Thursen?», brülle ich Norrock, dem Wolf, ins Gesicht. Dem regungslosen Wolf. Sinnlos. An den Brandwunden liegt das rohe Fleisch in einem Kranz schwarzer verschmorter Haare bloß. Aus seinem Maul hängt ein Blutfaden. Seine geschlossenen Augen geben keine Antwort.
Und dort sind die, die das getan haben. Unter den Büschen liegen zwei zerfetzte, zerbissene Körper, reglos in ihrem Blut. Dem einen ragt der Griff von Thursens Messer aus dem Bauch. Bloß nicht hinsehen.
Die Welt dreht sich so schnell, viel zu schnell für mich. Bilder von gestern und früher und heute rauschen vorbei. Bilder von Menschen und Wölfen und immer wieder Thursen. Und Thursen ist nicht hier! Er hat es nicht rechtzeitig nach draußen geschafft, ehe das Tor verschwand. Ehe diese dreimal verfluchten Idioten dort Norrock angegriffen haben, der das Tor geöffnet hielt, um uns den Rückweg zu ermöglichen. Jetzt ist das Tor verschwunden, und Thursen ist noch da drin. Dort, wo es gerade noch war, ist nichts als der feste Erdboden unter meinen Füßen. Verzweifelt grabe ich die Hände in den Boden, als gäbe es dort eine winzige Spalte zu tasten, die ich übersehen habe. Irgendetwas. Doch ich fühle nichts. Kalte feuchte Erde, sonst nichts.
Wolfspfoten würden mich schneller graben lassen, aber meine Finger
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