Schattenblüte. Die Erwählten
bleiben Finger, klamme, schmutzige Finger mit schwarzen Rändern aus Erde unter den Nägeln. Der tosende Wirbelsturm aus Bildern in meinem Kopf legt sich langsam und lässt mich klarer denken. Ich bin kein Werwolf mehr wie noch vor ein paar Minuten. Ich bin wieder Mensch. Thursen hat das für mich getan. Da drin in der Zwischenwelt hat er meinen Namen gesagt und mich zurückgeschickt ins Leben. Er konnte mich endlich zurückverwandeln, weil ich kein Silber mehr trug. Das Silber meiner Halskette hatte die ganze Zeit die Rückverwandlung blockiert. So einfach. Und so lächerlich dumm.
Jetzt könnten wir zusammen Mensch sein, Thursen und ich. Wir könnten das alles hinter uns lassen. Stattdessen ist Thursen bei Sjöll in der Zwischenwelt gefangen, weil Norrock das Tor nicht wieder öffnen kann.
Norrock! Ich hocke mich zu ihm, grabe meine Hand in sein blutiges Fell und taste am Hals seinen Puls. Schwach ist er, doch es pocht unter meinen Fingerspitzen. «Du stirbst mir nicht!» Ich brauche Hilfe. Ich lege die Hände wie Trichter an den Mund und heule mit meiner Menschenstimme nach dem Werwolfsrudel.
Und einen Moment später antwortet jemand von irgendwo weit her. Ich ahne die Antwort mehr, als ich sie höre. Heulen, anschwellend, abschwellend. Sie sind auf dem Weg. Das Warten ist furchtbar. Norrock zittert und stöhnt leise. Ich habe nicht mal Wasser, um seine Wunden zu kühlen, oder ihm zu trinken zu geben. Keine Verbände, um die Verletzungen abzudecken. Nichts, um ihn warm zu halten. Doch, meine Jacke kann ich ihm geben.
Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Thursen. Ich muss zu Thursen.
Norrock muss das Tor öffnen, und ich werde hineingehen und ihn finden, wie er mich gefunden hat. Ich muss einfach hinein. Ich hoffe, er ist noch am Leben. Ich hoffe, er ist noch nicht ins Licht gegangen. Jeder Gedanke an ihn fühlt sich nah und lebendig an. Ich würde es doch wissen, wenn er stirbt, oder? Sind wir nicht so verbunden?
Endlich erscheinen Wölfe zwischen den Stämmen. «Helft mir!», rufe ich, auch wenn sie meine Worte erst begreifen können, als sie bei mir angekommen in ihre menschliche Gestalt wechseln. Irudit. Mauriks. Zrrie. Und Haddrice. «Helft Norrock, er muss aufwachen und das Tor rufen! Schnell! Thursen ist da drin!»
Haddrice beugt sich zu Norrock und wirft einen Blick unter die Jacke, die ich ihm umgelegt habe. Sie rüttelt ihn, aber er reagiert nicht. «Er ist viel zu schwach, siehst du das nicht? Er kann sich nicht verwandeln, und als bewusstloser Wolf wird er nichts und niemanden rufen!»
«Dann sag mir, was ich machen soll!», bettele ich. «Thursen wird ins Licht gezogen. Er ist auf dem Weg in den Tunnel.»
«Da kommt doch eh niemand mehr raus», sagt Mauriks. Er untersucht die Leichen unter dem Holunderbusch und zieht aus der einen Thursens Messer heraus. «Wir müssen hier weg, sofort. Haddrice, das sind Shinanim.»
«Die sind doch tot!», sage ich. «Was sollen die uns noch tun?»
«Die nicht.» Irudit beugt sich über den zweiten Toten. «Andere werden kommen.»
«Was machen wir mit Norrock?», fragt Mauriks.
«Wir sollen hier weg?» Warum verstehen sie denn nicht? «Ich kann hier nicht weg, nicht ohne Thursen!»
«Du musst, Shorou!», sagt Mauriks. «Willst du etwa noch mal den Shinanim in die Hände fallen?»
Zrrie nimmt mich am Arm und versucht mich auf die Füße zu ziehen. «Er kommt nicht wieder, Shorou!»
«Doch. Bestimmt. Wir müssen nur irgendwie das Tor öffnen!»
«Thursen ist ein Mensch, und er ist freiwillig über die Schwelle ins Totenreich gegangen. Shorou, er liebt dich. Dich zurückzuholen, das war sein Abschiedsgeschenk an dich. Menschen kommen nie von dort zurück, und das wusste er!»
«Nein, das kann nicht sein! Ich bin doch auch zurückgekommen!», protestiere ich.
«Du bist auch zurückgekommen?» Zrrie bleibt stehen und sieht mich genauer an.
«Ja», bestätige ich. «Ich bin wieder ein Mensch. Und ich stehe hier vor dir. Er hat mich zurückverwandelt und in letzter Sekunde, bevor das Tor sich schloss, nach draußen geschubst.»
«Und er ist für dich gestorben, ohne mit der Wimper zu zucken», nickt Zrrie, deren Augen schimmern wie Wasser in einem See. «So war er.»
«Er ist nicht tot!», schreie ich sie alle an. «Er kann doch nicht tot sein!»
Ich wollte nur meinen Bruder sehen, einmal sehen, und ihm sagen, wie sehr ich ihn vermisse. Ich dachte, das würde mir helfen, über seinen Tod hinwegzukommen, weil die Trauer um ihn so schmerzhaft war. Als
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