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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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Norrock es beschrieben hat, klang es so einfach, ein Streich, wie eine verbotene Tür zu öffnen, zu der er zufällig den Schlüssel besitzt.
    Doch Norrock hat das Tor zwischen den Welten geöffnet und mit Leben und Tod gespielt. Ich habe eine verbotene Grenze überschritten, weil ich in beiden Welten leben wollte, bei den Lebenden und bei den Toten. Ich wollte meine Trauer beenden. Doch jetzt, ohne Thursen, habe ich mehr Trauer, als ich jemals ertragen kann. Und ich habe keinen Ausweg mehr, meinem Schmerz zu entkommen, kein Verwandeln mehr in die Tiergestalt und keine Flucht in Tiergedanken. Da ist kein Fell mehr, das meine Seele schützt. Nur diese entsetzliche Leere.
    Was habe ich getan? Ich war so furchtbar dumm. Ich kann nicht mal weinen. Meine Seele fühlt sich an wie eingefroren. Ich bin eingefroren. Steif und stumm stehe ich zwischen Irudit und Mauriks, neben Haddrice, die über Norrocks schlaffem Wolfskörper kniet und nach dem letzten Lebensfunken sucht, der in ihm glimmt.
    Meine Hand tastet automatisch nach Thursens Kette, die nicht mehr da ist.
    Thursen ist fort. Niemand wird mir helfen. Niemand wird Thursen helfen.
    Es ist Zeit, Abschied zu nehmen und an die Lebenden zu denken, sagte mir jemand am offenen Grab meines Bruders. Ich konnte es schon damals nicht. Ich werde es nie können. Trotzdem, jetzt muss ich es wenigstens versuchen. «Wie geht es Norrock?», frage ich, nuschelnd, denn meine Zähne klappern von der Kälte.
    «Was denkst du denn?», fragt Haddrice zurück. «Er muss das Tor offen gehalten haben, solange es ging. Das Tor, die Nähe zum Totenreich muss ihm die Kraft gegeben haben, überhaupt so lange durchzuhalten.»
    Was soll ihm Kraft gegeben haben? «Meinst du Sjöll?»
    «Wir sind die Wächter der Toten, du Mäuschen. Das Totenreich, das gibt uns allen Kraft und ihm, als Leitwolf, am allermeisten.»
    «Wir haben keine Zeit, Haddrice!», drängt Irudit.
    Ich beachte sie nicht. «Wird er leben?», frage ich Haddrice.
    «Ja, und er wird irgendwann zu sich kommen und sich vielleicht auch wieder verwandeln können, wenn die verdammten Shinanim ihn nicht vorher erwischen. Aber das wird Thursen dann nichts mehr nützen. Hier, nimm endlich deine Jacke zurück.»
    Mechanisch streife ich meine Jacke über und versuche, nicht an das Blut zu denken, das daran klebt. Thursen ist weg, und ich kann einfach nichts tun! Meine Gedanken gehen zu Sjöll, die auch auf der anderen Seite ist. «Sjöll wird es bestimmt freuen, dass sie jetzt Gesellschaft hat.»
    «Verdammt», knurrt Haddrice auf einmal. «Luisa, liebst du Thursen?»
    «Wie kannst du das fragen?»
    «Wenn du ihn liebst, wirklich liebst …» Sie richtet sich auf und sieht mich an mit all ihrer schwarzglänzenden Werwolfsmacht. «Dann jammere nicht rum, sondern ruf ihn zu dir.»
    «Wie denn? Das Tor ist weg, und ich kann wohl kaum den Nebel beherrschen, um es wieder herzuzaubern!»
    «Hör zu», sagt Haddrice. «Ich habe das Buch mit den Aufzeichnungen gelesen. Thursen ist noch hier; irgendwo, wenn auch auf der anderen Seite des Tores. Der Nebel macht das Tor nur sichtbar. Es ist hier, auch wenn wir es nicht sehen. Vielleicht hast du Glück, und es ist noch nicht ganz geschlossen.»
    Meint sie das ernst? Vielleicht kann ich Thursen rufen, ihm den Weg aus dem Totenreich weisen? Mir ist, als könnte ich ihn spüren. Thursen ist immer bei mir, ein Teil von mir. Ich schließe die Augen und flüstere seinen Namen. Lauter und immer lauter. Stehe schließlich da und rufe ihn mit all meiner Kraft.
    Mauriks rüttelt mich. «Hör auf, Luisa! Willst du, dass die Shinanim dich hören? Er kommt nicht! Das Tor ist zu. Wie soll er dich denn hören, selbst wenn er noch nicht im Licht ist?»
    Ich mache mich los und schüttele den Kopf. Ich kann doch nicht aufgeben! «Thursen!» Tränen rinnen mir über die Wangen. Es ist nicht mehr nur ein Rufen. Ich rufe nicht nur ihn, ich schreie meinen Schmerz und meine Angst heraus. Es wird kein Wunder geschehen. Thursen kommt nicht wieder. Ich werde ihn nie wiedersehen. Wie soll ich leben ohne ihn? Wie? Ich schließe die Augen, sehe ihn vor mir, fühle fast seine Berührung und flüstere noch einmal aus der Tiefe meiner Seele seinen Namen.
    Haddrices erstickter Ruf lässt mich ruckartig die Augen öffnen. Haben die Shinanim uns gefunden?
    «Thursen?», keucht sie.
    Thursen. Da ist er tatsächlich, lebendig, leibhaftig. Seine Haare hängen ihm ins Gesicht und sein Mantel von den Schultern. Quer durch sein Gesicht verläuft

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