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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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und streckt seine brennenden Hände nach mir aus. Mir müsste heiß sein, doch Kälteschauer durchfluten mich. Richtig, es ist ja auch kalt. Wir sind im Wald. Der Wald beschützt mich. Die Stämme rücken näher zusammen, schirmen mich ab und wispern leise. Die Zweige verflechten sich und weisen alles Gefährliche ab. Alles ist bedrohlich. Unter mir bebt die Erde in Wellen.
    «Luisa?», sagt Thursen. «Wach auf, Luisa! Du träumst mit offenen Augen!»
    Ich starre auf Adrian, der immer so harmlos war, und doch in seinen letzten Minuten Norrock, und damit auch Thursen und mich, fast getötet hätte. «Sie werden herkommen und nach ihm suchen, die anderen Shinanim, nicht wahr?», frage ich.
    «Ja. Sie werden ihre Toten finden, und noch bevor sie sie begraben, werden sie die Mörder suchen», sagt Haddrice, die zusammen mit Zrrie neben Norrock kniet. «Hör endlich mit dem Zittern auf. Zusammenklappen kannst du später.»
    «Luisa war im Totenreich!», flüstert Thursens heisere Stimme. «Und sie wurde gerade zurückverwandelt in einen Menschen. Du hast doch keine Ahnung, was die Rückverwandlung mit einem anstellt!»
    «Weißt du was?», erwidert Haddrice. «Das ist mir egal. Ich weiß, was die Shinanim mit uns anstellen, wenn sie uns hier erwischen, und das reicht mir.» Norrock rührt sich immer noch nicht. Doch wenigstens atmet er, wenn auch so laut und rasselnd, dass es die ganze Lichtung erfüllt. Zrrie wischt mit einem Tuch wieder und wieder die rosa Schlieren von seiner Schnauze, doch sie entstehen mit jedem Atemzug neu.
    «Hör auf mit dem Rumwischen, Zrrie. Werwolfheilung ist ja toll, aber Norrock kommt garantiert jetzt noch nicht auf die Beine. Wir müssen ihn tragen», entscheidet Haddrice. «Du und Mauriks, ihr sucht zwei Äste, die ungefähr so lang sind wie Norrock.» Sie hält ihre Hände maßnehmend über den schwarzen Wolfskörper. «Möglichst gerade.»
    Zrrie und Mauriks nicken, werden zu Wölfen und verschwinden im Wald. Ich klammere mich an Thursen fest und versuche den Klang der Bäume aus meinem Kopf zu bekommen, die mir raten, mich in Nebel aufzulösen und davonzuschweben, ins Nichts. Dann wäre ich sicher vor dieser Welt. Eine schwarze Krähe kommt von hinten angeflogen, über meine linke Schulter, eine zweite folgt rechts. Wollen sie mich davontragen? Nein. Zusammen sitzen sie vor mir auf einem Ast, stecken die schwarzen Köpfe zusammen und lachen mich aus.
    Thursen schwankt. Nein, diesmal kommt es mir nicht nur so vor, er ist am Ende seiner Kraft und schwankt, weil ich mich so an ihn hänge.
    «Luisa!», herrscht Haddrice mich an.
    Und ich befehle meinem Kopf, wieder klar zu denken. Ich kann nicht hier stehen bleiben und alle in Gefahr bringen. Ich lasse Thursen los, stelle die Füße fest auf den Boden, nehme meinen Mut zusammen und öffne mich den Gedanken und Gefühlen, die immer schneller, immer wilder in mich drängen. Allen Gedanken und Gefühlen. Es ist, als würde ich die Augen öffnen, obwohl das Licht viel zu grell ist. Jahre meines Lebens rauschen in einer Sekunde in mein Gedächtnis zurück. Ein wilder Strudel aus Freude, Liebeskummer. Mein erstes Tier, pelzig und süß. Heimweh. Streit mit Freundinnen. Mein Bruder im Krankenhaus. Sein Sterben. Schmerz, der einem die Seele verätzt. Und dann sind da, eingestreut wie glitzernde Splitter aus buntem, funkelndem Glas, die tausend Erinnerungen an mein neues Leben mit Thursen, meinem Thursen. Ein Leben, in dem der Schmerz mich nicht überwältigt und auffrisst, sondern in dem ich ihn packe, mit beiden Händen packe, und mich auf seinen Rücken schwinge. Ich reite den Schmerz wie einen feuerspeienden Drachen, der mich wild bockend durch den finsteren Nachhimmel trägt. Ich packe ihn bei den scharfen Zacken, lasse nicht los, und ich bezwinge ihn schließlich.
    «Shorou?», fragt Irudit, legt mir die Hände auf die Schulter und rüttelt mich.
    «Luisa. Ich bin wieder Luisa. Geht schon.» Shorou gibt es nicht mehr. Ich bin Mensch, bin Luisa. Luisa, die auch im Reich der Toten ihren Bruder nicht gefunden hat. Luisa, die zu den Lebenden gehört, auch wenn sie für diese Erkenntnis teuer bezahlt hat.
    Meine zu Fäusten geballten Hände öffnen sich. «Danke!», flüstere ich Thursen zu, suche seinen Blick, doch er lehnt an mir, eine Hand an meiner Schulter, die Augen erschöpft geschlossen.
    «Irudit», kommandiert Haddrice. «Irudit, hilf ihr mit Thursen! Ihr beide bringt ihn hier weg.»
    Thursen hat Haddrices Stimme gehört und öffnet die

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