Schattenblüte. Die Erwählten
wie ein brandroter Strich eine blutige Wunde. Das rechte Handgelenk, das offenbar auch verletzt ist, umklammert er mit der anderen Hand. Doch er ist da, lebendig, hier, schleppt mühsam seine Füße durch das zischelnde Laub, einen Schritt nach dem anderen, auf dem Weg zu mir.
Ich laufe ihm entgegen. «Luisa», murmelt er heiser, ein mattes Lächeln huscht über sein vor Anstrengung graues Gesicht. Er taumelt, und noch ehe ich ihn halten kann, knicken ihm die Knie weg, und er stürzt vor mir zu Boden. Fast bewusstlos, zerkratzt, verwundet liegt er vor mir, als hätte er sich mit bloßen Händen durch eine Steinwand gegraben. Wie hat er es nur geschafft, aus der Welt der Toten zu mir zu kommen?
Ich knie neben ihm, halte ihn in meinen Armen, halte ihn und werde ihn nie wieder loslassen in meinem ganzen Leben. Sein Mantelstoff kratzt vertraut an meiner Wange. Ich drücke meine Nase in seine Halsbeuge und atme seinen so vertrauten Geruch. Seine Augen sind geschlossen, aber ich weiß genau, welche Farbe sie haben werden, wenn er mich ansieht. Es ist das weiche Braun von Eichhörnchenfell mit kleinen silbernen Einsprengseln am inneren Rand. Früher – als Werwolf – waren seine Augen silbergrau, und sein Blick hat mir genauso den Atem genommen. Ich bin wieder Mensch, und die zurückgekehrte Erinnerung an ihn erschüttert mein Inneres wie ein tiefer Bass, der so laut aufgedreht ist, dass er alle anderen Geräusche ausblendet, ein Bass, den man nicht nur mit den Ohren hört, sondern als Zittern im Magen. Endlich habe ich meine zweite Hälfte zurück, den, der mich ganz macht. Wie konnte ich nur leben als Werwölfin? Wie konnte ich leben ohne das Wissen, dass Thursen mich gerettet hat? Dass mein Leben seins ist?
Ich wische eine Haarsträhne von der Wunde auf seiner Wange. Und als er endlich die Augen öffnet, sein Blick meinen findet, da versucht er tatsächlich ein Lächeln. Und ich weiß, dass alles gut werden muss.
«Hilf mir hoch!», sagt er. Ich stehe auf, strecke ihm meine Hand hin, die er mit seiner unverletzten greift. Er kommt auf die Füße. Wacklig noch, aber er steht.
«Verdammt!», flucht Haddrice. «Irudit, Mauriks, Zrrie, helft mir mit Norrock und lasst uns endlich von hier abhauen, bevor die toten Shinanim Verstärkung kriegen!»
Thursen geht auf meine Schulter gestützt zu den toten Shinanim unter den Büschen hinüber. Mit dem Fuß drücke ich einen überhängenden Zweig zur Seite. Der eine, der mit den ersten weißen Strähnen in seinem dunkelbraunen Haar, hat, soweit ich sehen kann, nur Bisswunden. Ich lasse meinen Blick über seinen zerschundenen Körper huschen. Er liegt auf dem Bauch. Unter seinen vorgestreckten Flammenhänden ist der Boden getrocknet und das Laub zu schwarzen Flocken verbrannt. Daneben liegt der, der durch Thursens Messer starb. Er hat schmutzverschmierte Stiefel mit tiefen Profilsohlen, seine Beine stecken in einer blutigen Hose, aus der sich durch ein handtellergroßes Loch das zerbissene Knie bohrt. Aus seiner aufgeplatzten Jacke quillt die Füllung heraus wie klumpiger, falscher Schnee. Nein. Nein, das ist unmöglich. An seinem Gesicht saugt mein Blick sich fest. Die zurückgekehrte Erinnerung brandet über mich herein und ertränkt mich. Das kann nicht sein! Ich kenne den Toten. Das ist Adrian! Adrian, Elias’ bester Freund, mit dem ich in der Wohnung zusammengelebt, gekocht und gelacht habe. «Thursen», flüstere ich. «Du hast Adrian erstochen.»
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31. Elias
AUF dem Heimweg von Nick versuche ich meine Eltern zu warnen, doch ich erreiche sie nicht. Der Verkehr fließt zäh, wie immer in Berlin, wenn die Straßen regenfeucht, verschneit oder sonst irgendetwas anderes als staubtrocken sind.
Zurück in meinem Zimmer tippe ich eine Nachricht für meine Eltern in mein Handy. Ich beschwöre sie, vorsichtig zu sein, keinem Fremden, und vor allem nicht Nick, zu öffnen und dunkle Straßen zu meiden. Ob sie tun werden, worum ich sie bitte? Nein, ich lösche Nicks Namen aus der Nachricht und drücke dann erst auf «Senden». Es würde unserer Mutter das Herz brechen, wenn sie wüsste, dass es Nick ist, der meinen Vater bedroht. Und mit der Nachricht kann ich meine Eltern, wenn schon nicht vor Nick, so doch wenigstens vor seinen zahlreichen Freunden warnen. Nick war schon immer unberechenbar, doch bis heute habe ich nicht geglaubt, dass er wirklich dem Mann etwas antun könnte, der für ihn da war und ihn durch unsere Schulzeit begleitet hat. Ich werde
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