Schattenblüte. Die Erwählten
ich etwas verpasst. Vielleicht habe ich nicht bemerkt, wie hübsch ihre blauen Augen waren. «Das Bier ist übrigens für Adrian», erkläre ich. «Er wird, denke ich, gleich hier sein. Vielleicht erklärst du mir trotzdem schon einmal, warum wir uns hier treffen?»
«Also. Ich brauche Hilfe, und soweit ich gehört habe, seid ihr die Einzigen, die mir in dieser Angelegenheit helfen können.»
Oje. Wir in unserer Gruppe sind tatsächlich für den Schutz Berlins verantwortlich, es freut mich, wenn man uns vertraut, aber wir können natürlich nicht jedem helfen, der ein Problem hat. Wie soll ich ihm das höflich erklären?
Er spricht immer noch nicht weiter. Ich nehme einen Bierdeckel vom Tisch, spiele damit herum und verfluche meine Ungeduld. «Und wobei brauchst du Hilfe?»
«Na ja, ich … also … wie soll ich sagen: Ihr kümmert euch doch um die Werwölfe, oder?»
«Werwölfe?» Der Bierdeckel zerreißt zwischen meinen Fingern. «Was weißt du über Werwölfe?»
«Nicht viel.» Der Junge schüttelt den Kopf, dass seine sorgfältig geschnittene Frisur durcheinandergerät. «Ein Mädchen aus meiner Klasse war mit einem von ihnen zusammen oder ist es noch, ich weiß nicht. Jedenfalls ist sie seit über einer Woche verschwunden. Keiner weiß, wo sie geblieben ist, und ich mache mir ehrlich gesagt ziemliche Sorgen. Ich dachte, du oder deine Gruppe, ihr könntet vielleicht herausfinden, na ja, ob ihr Verschwinden mit diesem Werwolf zu tun hat.»
Mir kommt ein Verdacht. Ich lege die Bierdeckelhälften beiseite. «Wie heißt du?»
«Edgar.»
«Sag mir den Namen deiner Klassenkameradin, Edgar.»
«Luisa. Luisa Folkert.»
«Mein Gott!», entfährt es mir. Schritte hinter mir. Edgar dreht den Kopf und sieht über meine Schulter. Unsere Getränke kommen. Die Serviererin lächelt mir besonders freundlich zu, doch ich erwidere das Lächeln auch diesmal nur halbherzig. Ja, sie sieht nett aus, aber ich habe jetzt keine Zeit zum Flirten. Um sie zum Gehen zu bewegen, bezahle ich gleich und gebe ihr ein gutes Trinkgeld. Als sie außer Hörweite ist, wende ich mich Edgar zu: «Luisa ist wirklich in deiner Klasse?»
«Ja. Wir sind natürlich jetzt in der Oberstufe, da hat man nur noch einzelne Kurse zusammen. Du kennst sie also? Weißt du, was mit ihr passiert ist? Geht es ihr gut? Wo ist sie?»
Warum soll ich ihn anlügen? «Ja, das wissen wir. Ziemlich genau sogar. Adrian ist gerade auf der Suche. Er wird sie finden.»
Das Handy klingelt in meiner Jackentasche. «Vielleicht ist er das.» Ich nehme das Gespräch an. «Adrian?», sage ich. «Wo bleibst du? Dein Bier wird schal.»
«Er ist also auch nicht bei dir», höre ich Jordan sagen. «Wir haben ein Problem, Elias. Delwin und Adrian melden sich nicht. Wir empfangen ihr Peilsignal, doch es bewegt sich immer noch nicht, und sie reagieren auf keinen Kontaktversuch. Wir befürchten, dass etwas passiert ist. Felicity geht mit einem Trupp in den Wald und sucht sie.»
«Wartet auf mich, Jordan! Ich bin gleich bei euch.» Beim Aufstehen stoße ich Adrians Bier um und merke es erst, als ich vor der Tür die Stufen zur Straße hinunterlaufe und meine Hose kalt am Oberschenkel klebt.
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32. Luisa
ADRIAN ist tot. Einer der Toten hat auf einmal einen Namen. Eben noch war er ein namenloses, werwolfhassendes Shinanim-Monster, das man irgendwie stoppen musste, bevor es Norrock umbringt. Und jetzt liegt da Adrian, mein ehemaliger Mitbewohner, und ist tot. Ich blinzele und versuche, einen klaren Kopf zu behalten. Ich wünschte, ich könnte mich verwandeln, nur einen kleinen Moment lang die Welt auf Abstand halten, einen kleinen Moment lang die Menschenhülle und mit ihr das Entsetzen abstreifen, bis der Schrecken nicht mehr ganz so frisch ist. Doch es geht ja nicht mehr! Ich merke, wie meine Hände zu zittern beginnen, als würden sie jemand anderem gehören als mir. Thursen hält mich, mehr als dass ich ihn halte. Der Wald scheint zu atmen, ein und aus wie eine riesige Lunge. Er dehnt sich und zieht sich wieder zusammen, verzerrt sich vor meinen Augen. Ich sehe Adrian vor mir, der aufsteht und plötzlich nicht mehr im Wald ist, sondern in der Küche vor der Arbeitsplatte steht und lachend mit einem Zwiebelstückchen nach mir wirft. Meine Augen tränen. Ist das die Zwiebel? Der Wokbrenner zischt, und Raquel rührt Pilzschnitze und Möhrenstreifen in der heißen Pfanne. Ich suche das Zitronengras. Und dann dreht sich Adrian wieder zu mir, geht in Flammen auf
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