Schattenblüte. Die Erwählten
Wald verwachsen scheint. Am Grund der Schlucht steht die Bühne, ein stoffüberspanntes Podest mit Scheinwerfern, Lautsprechern und all der Technik, doch es gibt nichts, was außer dem Sonnenuntergang den Zuschauerraum verdunkeln könnte. Früher war ich mit meinen Eltern oft im Sommer hier, wir haben uns einen Picknickkorb und eine Decke mitgenommen und nach Einbruch der Dämmerung mit Tausenden von Leuten zusammen Filme geschaut. Später dann, auch als ich schon wusste, dass ich ein Shinan bin, war ich gerne zu Konzerten hier. Ich habe alles angeschaut, von Rockkonzerten bis zu den Auftritten der Berliner Philharmoniker. Waldbühne, das war für mich Entspannung, Freizeit und Sommervergnügen. Heute schmeckt die Luft nach Schnee. Es gibt keine Musik, die uns schon am Eingangstor begrüßt wie früher. Dafür krächzen in den kahlen Bäumen die Krähen. Es scheinen mehr Krähen zu sein als in jedem Jahr zuvor.
Auf dem Platz vor dem Eingangstor stehen, eingehüllt in warme Mäntel und Jacken, kleine Grüppchen von Leuten, die ehrfürchtig raunend unser Erscheinen quittieren. Die Eingangstore sind weit geöffnet. Offiziell ist niemand hier. Doch inoffiziell ist für uns Shinanim nichts unmöglich, auch nicht, die Waldbühne während der Winterpause zu öffnen.
Ich begebe mich nach links, die Seitentreppe hinunter, um dort wie verabredet auf halber Höhe hinter einem geschlossenen Verkaufsstand mit Felicity und drei anderen Shinanim zusammenzutreffen. Vier von uns sind auf der Bühne. Gegenüber, an der rechten Seitentreppe, hält sich ebenfalls eine Gruppe versteckt, ein paar aus meiner Gruppe sind dabei. Wenn die Werwölfe versuchen sollten, Vittorio anzugreifen, dann bekommen sie es mit uns zu tun.
Felicity lauscht in ihr Headset und flüstert mir zu: «Die Wächter sind auf ihren Positionen. Das Bühnentor unten ist geöffnet.» Ich nicke. Das Tor führt genau in den Wald. Die Werwölfe können kommen.
Wir sind bereit.
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40. Luisa
HEUTE war wieder einer dieser Tage, an dem Morgen- und Abenddämmerung ohne Übergang ineinander verschwimmen. Es ist später Nachmittag, und die Sonne, nicht mehr als ein heller Fleck am weißen Himmel, rutscht langsam hinter die Baumkronen. Krähen fliegen auf der Suche nach einem Schlafplatz von Baum zu Baum. Es sind noch mehr geworden in den letzten Tagen. Sie sind Tag und Nacht bei uns. Tags kreisen sie hoch am Himmel über unserem Lagerfeuer, nachts, wenn ich aus meinen Albträumen hochschrecke, höre ich ihr leises Krächzen in der Nacht. Ja, bald geht die Sonne unter. Ich zurre den Reißverschluss meiner Jacke bis unters Kinn und ziehe mir die Mütze über die Ohren. Zeit aufzubrechen. Bei Sonnenuntergang werde ich Nick sehen.
Haddrice hat das Rudel um sich versammelt. Immer noch hat niemand dagegen aufbegehrt, dass sie für Norrock spricht. Wir nehmen es hin und warten, dass Norrock zurückkehrt. Zum letzten Mal. Wir alle wissen, dass er sich bald nicht mehr verwandeln wird. Er hält nur so lange durch, um seine Rache an Nick zu vollenden.
«Alle bereit? Zrrie, Luisa und Rieke, ihr bleibt bei Edgar und passt auf, dass wir noch eine Geisel haben, wenn wir eine brauchen sollten. Rawuhn hilft euch.» Haddrice schickt ihm einen Blick, den der Wolf offenbar versteht, denn er kommt aus dem Kreis seiner Rudeltiere zu uns herüber. «Die anderen kommen mit mir. Lasst die Shinanim uns kennenlernen.»
Was? «Nein! Ich bleibe nicht hier, Haddrice», sage ich. «Auf keinen Fall!»
Polmeriak lacht. «Wir brauchen doch ausreichend Wächter für unseren ach so gefährlichen Shinan.»
Was mischt der sich ein?
Haddrice bringt Polmeriak mit einem Blick zum Schweigen und wendet sich an mich. «Du bist Mensch und machst uns langsam.»
«Ich kann nicht einfach hier im Lager bleiben und warten, das halte ich nicht aus!»
«Lass sie mit, Haddrice», springt Thursen mir bei. «Gerade du solltest verstehen, warum Luisa das so wichtig ist.»
Wir haben nicht darüber gesprochen. Auch nicht, als ich versucht habe, sein Handgelenk so fest zu verbinden, dass er die Hand wenigstens ein bisschen benutzen kann. Doch er weiß natürlich trotzdem, woran ich denke.
Ruhig blicke ich Haddrice in die Augen. «Nick hat mich genauso überfallen wie dich, Haddrice. Ich muss mit eigenen Augen sehen, dass er gefangen ist. Dass wir ihn endlich überwunden haben und er uns nie mehr etwas tun kann.» Ich muss ihn nicht tot sehen, nur in Fesseln. Nur auf dem Weg ins Gefängnis.
Haddrice
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