Schattenblüte. Die Erwählten
hinüber zu Irudit und Mauriks. Die beiden verstehen sofort. Sie laufen unbemerkt zum Rand der Bühne, wittern und springen lautlos hinab in die Dunkelheit.
Vittorio seufzt. «Thursen, ihr seid wirklich zu gefährlich, um frei herumzulaufen. Du hast einen von uns getötet. Dein Rudel hat im Tegeler Forst gemordet, und jetzt sind wieder zwei von uns eurer Mordlust zum Opfer gefallen, wer auch immer von euch dafür verantwortlich ist. Ihr werdet den Ort hier nur verlassen, um uns in unser Institut zu folgen.»
«Dorthin, wo ihr Haddrice gefoltert habt?», fragt Thursen.
«Ist es das, was ihr unter Frieden versteht?» Haddrice steht bei Nick, der ohne Erfolg an den Stricken zerrt, die seine Hände halten.
«Wir wollen euch helfen», sagt Vittorio. «Ihr Werwölfe seid besessen von der Energie der Hölle. Wir können euch davon befreien und euch die Dämonen der Finsternis austreiben.»
«Da drüben sind noch mehr von denen», zischt Irudit, die lautlos wieder neben uns aufgetaucht ist.
Thursen nickt unmerklich und wechselt einen Blick mit Haddrice. Wann lässt Vittorio die Falle zuschnappen?
«Wir kommen nicht mit!», sagt Haddrice. «Keiner von uns. Das könnt ihr vergessen. Wir haben uns euren schwachsinnigen Vorschlag angehört. Jetzt gehen wir. Und den …» Sie zeigt auf Nick. «Nehmen wir mit.» Ehe sie jemand davon abhalten kann, hat sie ein Messer in der Hand, das sie unter Nicks Fesseln schiebt, um die Stricke durchzuschneiden.
Da wird die ganze Waldbühne in Licht getaucht. Wir werden vom Scheinwerferlicht geblendet, und Haddrice verharrt in der Bewegung.
Im jetzt erleuchteten Zuschauerraum marschieren die Shinanim auf. Viele. Die fünffache Überzahl mindestens.
«Ganz ruhig. Wir sind hergekommen, um zu reden», sagt Thursen. «Wir sagen, was zu sagen ist, und dann gehen wir wieder. Wir haben Edgar. Er ist bestimmt ein netter Junge, aber wenn ihr uns nicht gehen lasst, dann ist er tot!»
«Seid doch vernünftig!», ruft einer hinauf, den ich kenne. Konstantin. Auch er war in Elias’ Wohngemeinschaft, genauso wie Adrian. Meine Güte, er war nervig, aber wir haben morgens zusammen am Frühstückstisch gesessen!
Bedeutet das, dass Elias auch hier ist? Mein Blick sucht ihn, aber ohne Erfolg. Seltsamerweise macht mir das noch mehr Angst, als wenn er unten in den Reihen derer stünde, die uns vernichten wollen.
«Ihr gebt also zu, dass ihr uns eine Falle gestellt habt?», ruft Thursen.
Die ersten Shinanim klettern zu Vittorio und seiner Gruppe auf die Bühne. «Wir haben das gemacht, was man mit gemeingefährlichen Raubtieren tut!»
«Prima!», ruft Nick. «Dann habe ich ja meinen Job gemacht. Kann mich jetzt mal jemand losmachen? Das ist unbequem hier.»
Und dann passiert alles auf einmal.
«Packt sie!», ruft Vittorio.
Jerro und Fath zerren einen Shinan von Lurnak weg. Lurnak heult auf, beißt um sich, um freizukommen.
«Weg hier!», schreit Thursen.
Irudit tritt einem dunkelhaarigen Shinan, der nach ihr greift, in den Bauch. Ein eleganter Blonder versucht, Haddrice das Messer aus der Hand zu reißen. Er hat es gerade geschafft, hält sie am Arm, da wird sie unter seinen Händen zum Wolf, springt weg. «Nick!», brüllt jemand. Eine Sekunde später springt Haddrice am gefesselten Nick hoch und beißt ihm die Kehle durch.
Nick, in Blut gebadet, ist plötzlich ganz still.
Haddrice heult ihr Triumphgeheul, das gurgelnd abreißt, als sie von irgendwoher von Geschossen getroffen wird. Ihre Pfoten knicken unter ihr weg, und sie sackt auf den Holzboden.
Schüsse! Wer schießt hier?
Thursen reißt mich zu Boden.
Haddrice wird getroffen. Noch mal. Noch mal. Ihr zuckender Wolfskörper wird von den Einschlägen herumgeworfen. Noch ein Schuss knallt.
Roff, Mauriks und Irudit werden zu Wölfen. Springen halb über, halb zwischen die Shinanim und entwischen ihnen, nach allen Seiten um sich beißend. Thursen springt auf, ich auch. Gebückt zieht er mich mit sich. Doch es fallen keine Schüsse mehr. Über die Schulter hinweg sehe ich, wie Haddrice im Sterben Mensch wird und ihre Farben zurückbekommt. Ihr Haar hat auf einmal einen milden Kastanienton, und ihre Lippen sind fast so rot wie das Blut, das darauf erstarrt.
Und dann sehe ich Elias doch. Wütend kommt er angerannt und auf die Bühne gesprungen. Alle rufen durcheinander, und ich kann nicht verstehen, was er sagt. Er wirft Vittorio das Gewehr vor die Füße und packt den toten Nick, als wollte er ihn noch einmal umarmen. War er es, der
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