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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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grenzenlose Güte der Engel schlummern. Unser guter Wille bedeutet, dass mein Bruder jetzt im Gefängnis sitzt. So haben die Werwölfe keinen Grund mehr zu behaupten, sie müssten Menschen angreifen, denn Nick ist keine Gefahr mehr. Wir kommen zu dem von ihnen angegebenen Ort, und sie behalten Edgar als Geisel. Mit anderen Worten: Wir bieten alles, und sie bieten nichts. Wer sagt, dass sie uns nicht angreifen, statt sich unsere Bitten anzuhören? Wir werden natürlich nicht kämpfen, und wenn, dann nur mit Worten. Trotzdem fühle ich mich wie ein Ritter vor der Schlacht, als ich Schicht um Schicht meine Kleidung anlege. Isolierende Unterkleidung, darüber Hose und Pullover aus leichtem, atmendem Stoff, der wärmt und die Bewegung nicht behindert. Snowboard-Kleidung fast, doch natürlich nicht so bunt. Als Shinan liebe ich Weiß, die Farbe des himmlischen Lichtes, das sich im Schnee widerspiegelt. Ich werde nicht frieren, wenn wir uns dort draußen an den Verhandlungstisch setzen. Ich schlüpfe in meine Stiefel. Sie haben Profilsohlen und einen halbhohen Schaft. Ich könnte darin laufen, ohne auszurutschen. Ich könnte auch kämpfen darin. Doch wir kämpfen ja nicht. Wir reden nur. Ich schnüre meine Stiefel zu, sorgfältig erst rechts und dann links.
    Ich wünschte, Adrian würde draußen vor meiner Tür auf mich warten. Er würde ein paar Scherze machen und der ganzen Sache damit etwas an Dramatik nehmen. Ich wünschte, ich könnte für ein paar Stunden kein guter, weiser Shinan sein, sondern die Werwölfe für Adrians Tod bezahlen lassen. Bin ich vielleicht gar kein wahres Engelskind, wenn ich mir heimlich wünsche, ich könnte das Messer, das meinen Freund getötet hat, seinem Besitzer auf die gleiche tödliche Weise zurückgeben?
    In meiner Tasche summt eine kleine Melodie. Mein Smartphone. «Bist du so weit?», fragt Esther.
    «Ich komme», bestätige ich.
    Zeit für Jacke und Mütze. Handschuhe brauche ich schon seit Jahren nicht mehr, seit ich weiß, dass ich ein Shinan bin. Wer braucht Handschuhe, wenn er aus seinen Händen Flammen wachsen lassen kann?
    Unten in der Halle treffe ich Esther und Vittorio im Gespräch. Sie verstummen, als ich hinzutrete. «Gut. Da bist du ja.» Esther lächelt und hebt im nächsten Moment ihr sanft piependes Handy ans Ohr. «Der Hubschrauber ist bereit!», sagt sie zu uns. Gemeinsam gehen wir zum Landeplatz, wo ein weißer Hubschrauber mit laufendem Motor auf uns wartet. Keiner spricht, es ist zu laut. Kaum haben wir die Türen geschlossen und uns angeschnallt, beginnen sich die Rotorblätter über uns zu drehen, und der Lärm wird noch größer. Vittorio gibt dem Piloten ein Zeichen, und wir heben ab. Ich sehe hinaus. Die Villen unter uns werden kleiner, als würden sie von einer Kamera weggezoomt. Vittorio hat keinen Blick für das, was draußen vorgeht. Er betrachtet aufmerksam sein Tablet; was er sieht, kann ich von meiner Position aus nicht erkennen. Wenige Minuten später sind wir nicht mehr über Häusern und Straßen, sondern über dem Wald. Aus dem Seitenfenster sehe ich einen zweiten Hubschrauber, der unter uns zwischen die Baumkronen einschwenkt. Setzt er zur Landung an? Ich kann es nicht erkennen, wir sind schon weiter, immer noch hoch über den Bäumen. Wir verfolgen, wie weitere Hubschrauber wie vorgesehen auf einem Sportplatz in der Nähe landen. Das müssen die anderen Ratsmitglieder sein. Mir war nicht klar, dass sie tatsächlich alle an der Beratung teilnehmen werden. Auch unser Pilot geht langsam tiefer. Unter uns fahren zahlreiche Autos im Konvoi die Straße Richtung Waldbühne entlang. Dann drehen wir ab, kippen zur Seite, sodass einen Moment lang die Straße nicht unter, sondern neben uns zu sein scheint, dann steigen wir wieder. «Was sind das für Autos da unten auf der Straße? Warum so viele?»
    «Als gestern die Nachricht kam, dass wir Werwölfe erwarten, hat das die Shinanim natürlich elektrisiert», sagt Esther. «Sie alle wollen die sagenhaften, dunklen Gestalten mit eigenen Augen sehen und dabei sein, wenn sie endlich unsere Hilfe annehmen.»
    Sanft setzt der Hubschrauber auf dem Boden auf, und der Pilot drosselt den Motor. Vittorio reicht Esther sein iPad. Wir öffnen die Türen.
    «Steig aus, Elias!», sagt Esther. «Wir schreiben heute Geschichte.»
    Eigentlich mochte ich die Waldbühne immer. Mir gefiel es, wie sich die halbkreisförmigen Sitzreihen an die Wände der Murellenschlucht schmiegen, sodass die ganze Waldbühne mit dem angrenzenden

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