Schattenblüte. Die Erwählten
meinem Leben will ich in das Shinanim-Gefängnis zurück. Nie erleben, wie einer von den Werwölfen an das Sünderkreuz gefesselt wird. Mir gellen Haddrices Schreie in den Ohren, und ich laufe weiter.
Laufe.
Laufe.
Thursen lässt die Wölfe, die so viel schneller sind als wir, ausschwärmen. Schnuppernd suchen sie den Waldboden ab nach Spuren unserer Verfolger.
Und ich laufe weiter. Laufe, bis der Schmerz in den Beinen dumpfer wird und die Füße von Anstrengung und Kälte taub. Edgar stolpert in ein Bodenloch und stürzt. Thursen hat genug Geistesgegenwart, das Seil rechtzeitig loszulassen, damit Edgar sich nicht erhängt. Doch im nächsten Moment hat Thursen das Seilende wieder, und Edgar muss aufstehen, sein schmutziges Bündel greifen und weiterlaufen. Ist es Erschöpfung oder Angst, die ihm stumm die Tränen über die Wangen rinnen lassen?
Wir laufen. Die Angst vor den Shinanim treibt uns weiter.
Nach einer Weile lässt sich Norrock, der schwarze Wolf, zurückfallen und rennt neben uns. Wird Mensch und kommt nur kurz aus dem Takt, als er statt auf vier auf zwei Beinen weiterläuft. «Abgesehen von unserer Geisel haben wir schon seit über einer Stunde keine Nase voll Shinanim-Gestank mehr gewittert», sagt er. «Lass uns endlich anhalten, Thursen!»
«Nur noch ein Stück. Da vorne in der Senke ist es günstig für heute», sagt Thursen. «Da sind wir versteckter. Oder hättest du uns gerne auf dem Präsentierteller?»
Norrock grinst. Wie oft wird ihm die Verwandlung noch gelingen?
Ein kleines Stück bergab, dann lässt Thursen uns endlich anhalten.
Mir knicken die Beine weg, und ich kann mich gerade noch an einem Baumstamm abstützen. Ich löse mein Schlafsackbündel von meinem Rucksack und lasse mich atemlos darauffallen.
Rieke hat nicht umsonst gewarnt. Es ist eisig, jeder Atemzug brennt im Hals. Viel kälter noch ist es als gestern. Ich bin erhitzt vom Laufen, schwitze, und jetzt springt mir die Kälte ins Gesicht wie ein böses kleines Tier.
Mauriks und Irudit, wieder in Menschengestalt, binden Edgar an einen der Bäume. Erschöpft fällt sein Kopf vornüber. Die Tränen haben auf seinen Wangen helle, glänzende Spuren hinterlassen, die er sich mit seinen gefesselten Händen nicht abwischen kann.
Norrock prüft die Knoten um seine Handgelenke. «Für morgen habe ich mir etwas ganz Spezielles für ihn ausgedacht», sagt er zu Thursen. «Besser als Arme ausreißen. Ich denke, das hätte Haddrice gefallen.»
«Norrock!», sagt Zrrie und tauscht einen schnellen Blick mit Edgar, der beim Klang ihrer Stimme den Kopf hebt. «Das ist doch so sinnlos. Meinst du, es interessiert die Shinanim noch, ob und auf welche Weise er stirbt? Sie jagen uns so oder so. Warum lässt du ihn nicht einfach leben? Du hast ihn erlebt. Wir haben ihn gestern losgebunden, und er hat keinem von uns etwas getan.»
Norrock lässt sich erschöpft zu Boden sinken. «Das ist ja nicht persönlich gemeint. Aber er war das Pfand, dass alle von uns heil von dem Treffen zurückkommen. Es sind aber nicht alle zurückgekommen. Haddrice fehlt, wenn es dir noch nicht aufgefallen sein sollte.»
Zrrie wendet sich ab und stapft davon. «Manchmal hasse ich dich wirklich!»
«Wenn wir unsere Drohungen nicht wahr machen, dann glauben sie uns gar nichts mehr», ruft Norrock ihr nach. «Dann löschen die Shinanim uns aus, ohne auch nur tief Luft zu holen.» Doch sie versteht ihn nicht mehr, ist schon Wolf geworden.
Ich bin so erschöpft, ich möchte umfallen und schlafen. Doch dann würde ich heute Nacht vermutlich erfrieren. Also beginnen wir nach einer kurzen Verschnaufpause, aus Zweigen eine Art Zelt zu errichten. Thursen schneidet Nadelbaumzweige ab, die die Wölfe zu unserem Lagerplatz zerren. Rieke, Mauriks und Irudit stellen sie zu einem Dreieck zusammen und decken sie mit kleineren Zweigen ab. Rieke holt aus ihrem Rucksack einen kleinen gasbetriebenen Campingkocher. Er wärmt ein wenig, seine kleine bläuliche Flamme leuchtet kaum, und er raucht nicht so wie ein Feuer. Ich wusste nicht, dass sie so etwas besitzt, doch für unsere Zwecke ist er ideal. Weder Rauchfahnen noch Feuerschein kann man über den Rand der Senke hinweg sehen.
Von irgendwo höre ich ein Brummen. Weit entfernte Verkehrsgeräusche vielleicht? Ich wärme mir meine Hände, und dann gehe ich hinüber zu Edgar. Thursen ruft mir etwas zu, doch ich kann ihn nicht verstehen. Das Dröhnen über uns wird lauter.
«Ein Hubschrauber», sagt Edgar und blickt nach oben.
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