Schattenblüte. Die Erwählten
Möglichkeit gezeigt, zum Werwolf zu werden, stark und tödlich, statt zu verzweifeln.
«Macht endlich das Feuer aus!», ruft Thursen, zögert nicht einen Moment. «Wir brauchen keinen Feuerschein, der die Shinanim zu uns lockt wie ein Leuchtturm. Nehmt mit, was euch das Wichtigste ist, und macht schnell. Wir geben in zehn Minuten das Lager auf.»
Er dreht sich zu mir, ganz in der Aufgabe versunken. Wieder ist er für das Rudel verantwortlich. Thursen, der Leitwolf, ist für eine kurze Weile zurückgekehrt. «Luisa, kümmere dich um Rieke.»
Ich nicke und bin schon an ihrem Zelt.
«Ich habe es gehört!», sagt sie, als ich den Kopf durch den Zelteingang stecke. Sie stopft Sachen in ihren Rucksack. Drückt den Inhalt mit der flachen Hand zusammen, damit mehr hineingeht. Doch da ist kein Platz mehr für irgendwas. «Verflixt!», murmelt sie, zerrt ein Buch wieder heraus, dreht es in den Händen, überfliegt den Klappentext, legt es weg. Stattdessen nimmt sie ein in dunkles Leder gebundenes Buch und eine Art Notizbuch und schiebt beide vorsichtig in den Rucksack hinein. Sie sehen wertvoll aus und ziemlich alt. Es sind so ganz andere Bücher als die bunten Taschenbücher, die ich sonst bei ihr gesehen habe. Als sie bemerkt, wie ich sie beobachte, sagt sie: «Ich komm schon klar. Geh lieber auch packen. Du brauchst Decken und alles Warme zum Anziehen, das du finden kannst. Merkst du nicht? Es wird immer kälter!»
Draußen stinkt es nach kaltem Feuer, über das Roff unsere Wasservorräte ausgeschüttet hat. Die können wir so wenig mitnehmen wie die Planen und die Essensrationen.
Ich packe schnell. Ich besitze fast nichts hier im Wald. Das Wenige, was ich habe, stecke ich in einen der Rucksäcke, rolle meinen Schlafsack zusammen, dann bin ich aus der Höhle.
«Gute Idee, ihn aufzuhängen! Das dürfte den Shinanim eine Warnung sein», sagt Mauriks zu Thursen, der, Rucksack und Schlafsackrolle über der Schulter, Edgar einen Strick um den Hals knotet.
Irudit bückt sich und steckt noch etwas in ihre ausgebeulten Jackentaschen. «Genau, sie wussten schließlich, dass er unsere Geisel ist! Und sie haben uns trotzdem angegriffen. Sie sind schuld an seinem Tod. Vielleicht dämpft ihr schlechtes Gewissen ihre Angriffslust ein wenig.»
Ich weiß, Edgar hat uns in die Falle geschickt. Ohne ihn würde Haddrice noch leben. Ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass Thursen ihn einfach an den nächsten Ast hängt. Es kommt mir total unwirklich vor.
«Jetzt schon?», fragt Edgar. «Ich meine, muss ich wirklich jetzt sterben?»
«Ach, sei ruhig!», sagt Thursen. «Über deinen Tod entscheidet Norrock später. Jetzt müssen wir hier erst mal weg, weil
wir
nämlich nicht sterben wollen! Alle fertig?» Thursen dreht sich zu uns um und mustert uns. Als er mich ansieht, nickt er mir ganz leicht zu. Ich nicke zurück. «Dann los!», befiehlt Thursen. Edgar führt er an dem Strick um seinen Hals wie einen Hund an der Leine. Müsste Edgar nicht sein Bündel tragen, hätte Thursen ihm sicher noch die Hände gefesselt. Ein Strick um den Hals ist sicher unbequem, aber ohne Edgar bräuchten wir nicht zu fliehen. Mein Mitleid hält sich in Grenzen.
Auf Thursens Zeichen hin beginnen wir alle zu laufen, Wölfe und Menschen.
«Wohin?», fragt Zrrie. Läuft ein paar Meter neben uns, neben Edgar, der sich ängstlich bemüht, nicht zu stolpern.
Thursen zeigt mit dem bandagierten Arm vor sich. «Ostwärts!»
Zrrie nickt und verwandelt sich. Sie ist die Letzte, die Wolfsform annimmt. Jetzt sind es nur noch Wölfe, die uns umkreisen. Ich wünschte fast, ich könnte mich auch noch einmal verwandeln. Nur noch dieses Mal. Auf vier Pfoten trabt es sich so viel leichter. Als Mensch habe ich schon nach kurzer Zeit Seitenstiche. Ich versuche tief und gleichmäßig zu atmen, doch da machen meine schmerzenden Rippen nicht mit. Mein Rucksack schlägt gegen meinen Rücken bei jedem Schritt. Nach einer Weile beginnt auch Rieke zu keuchen. Edgars Augen sind ängstlich aufgerissen, er schnappt bei jedem Schritt mit offenem Mund nach Luft. Selbst Thursen sieht man die Anstrengung an. Natürlich, er ist ja auch noch verletzt. Unter seiner Kleidung sind die Brandwunden, die bei ihm so viel langsamer heilen als bei den Wölfen. Wir werden nicht mehr lange durchhalten. Nicht nach dem Kampf mit den Shinanim und nicht mit dem Gepäck auf den Schultern. Doch wenn wir anhalten, werden uns unsere Verfolger einholen.
Selbst wenn sie uns nicht töten: Nie wieder in
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