Schattenblüte. Die Erwählten
Werwölfin anfasst.
«Du kennst ihn schon länger, nicht wahr?», fragt sie.
«Ja, er ging in meine Klasse. Er war nicht besonders beliebt, weißt du.» Wie es wohl für ihn war, ganz normal weiter in die Schule zu gehen, auch nachdem er wusste, dass er ein Shinan ist und so anders als seine Schulkameraden?
«Warum war er unbeliebt?» Zrries Gesicht ist seinem ganz nah, sie sieht ihn aufmerksam an. Ihre Hand liegt immer noch an seinem Hals. Was sieht sie in ihm, das ich nicht sehe?
«Er war einfach nicht … cool. Wenn ihn jemand dumm angemacht hat, hat er sich nicht gewehrt, sondern nur gelächelt.»
«Kein Kämpfer?»
«Nein, wirklich nicht.»
«Hmm», macht Zrrie und lässt ihn immer noch nicht aus den Augen. Soll ich weitererzählen? Fell huscht über ihren Körper, doch sie drängt es zurück.
«Zu mir war er eigentlich nett, er hat mir oft geholfen, mit der Schule und so.» Ich lächle. «Auch wenn ich ihm immer wieder gesagt habe, er soll abhauen, weil er nervt.»
«Er ist unbewaffnet und ganz allein hergekommen.»
«Sonst hätte es wieder einen Kampf gegeben.» Ich spreche leise, um ihn nicht zu wecken.
Zrrie ist nicht so vorsichtig und greift nach seinem Handgelenk. Ob es von den Fesseln aufgescheuert ist? «Ganz schön mutig», sagt sie.
«Ja, eigentlich schon. Trotzdem, vergiss nicht, dass er unser Feind ist. Er ist einer von denen, die Haddrice und mich gefangen haben. Einer von denen, die uns heute in die Falle gelockt haben und die schuld sind, dass Haddrice tot ist. Weißt du, wie viel er wirklich von dem Plan wusste?»
Zrrie schweigt, ohne sein Handgelenk loszulassen. Sieht ihn immer noch an, als warte sie auf ein Zeichen.
«Was meinst du, lassen wir ihn sterben?», flüstert sie nach einer kleinen Pause.
«Was?», sage ich. Auf einmal gar nicht mehr so leise.
«Luisa, ich finde kaum noch einen Puls. Am Hals nicht und am Handgelenk ebenso wenig. Er erfriert gerade.»
«Zrrie!»
Sie dreht sich zu mir, Tränen laufen ihr übers Gesicht. «Wir wissen es doch beide. Wenn wir ihn nicht erfrieren lassen, wird ihn einer von uns töten müssen. Erfrieren ist ein schöner Tod, vielleicht besser als das, was Norrock mit ihm vorhat. Meinst du nicht, Edgar würde lieber so sterben, ganz friedlich?»
Als Thursen ihm den Strick um den Hals geknüpft hat, war ich noch wütend auf Edgar. Doch jetzt muss ich nicht überlegen. Edgar ist vielleicht Shinan, aber auch mein Freund, der mir im letzten Jahr geholfen hat, meine kleine Nachbarin zu retten. «Schnell, bind ihn los. Er muss raus aus der Kälte. Ich hole wen zum Tragen.» Ich sehe Zrrie an. «Du willst doch auch nicht, dass er stirbt.»
Stumm schüttelt sie den Kopf und reibt sich mit den Handballen die Tränen aus den Augen.
Ich wecke die Wölfe, die draußen vor der notdürftigen Hütte schlafen. Mauriks ist ganz klar dagegen, was wir machen. Er sträubt erst als Wolf sein Fell, bleckt die Zähne, dann wird er Mensch und will auf uns losgehen. Der Norrock-Wolf springt auf und hält ihn knurrend in Schach.
Mauriks starrt Norrock böse an. «Was soll das? Der stirbt nicht so leicht! Das ist kein Mensch, das ist einer von den Shinanim! Habt ihr vergessen, was die mit uns gemacht haben?», schimpft er und macht einen drohenden Schritt auf Norrock zu, der die Zähne fletscht und sein Grollen lauter werden lässt. Einen Moment lang habe ich Angst, dass Mauriks den verletzten Leitwolf zum Kampf um die Rudelführung herausfordern will.
«Hör auf, Mauriks», sagt Thursen, der mittlerweile von dem Lärm wach geworden und zusammen mit Rieke aus der Hütte gekommen ist. Und tatsächlich bleibt Mauriks stehen, senkt den Kopf und ballt die Hände wütend zu Fäusten. Kein Kampf. Diesmal nicht. Rieke und Thursen sind es, die uns helfen, Edgars schlaffen Körper durch den Eingang ins Zelt zu bugsieren. «Danke, Thursen», sagt Zrrie. Sie zieht Edgars Kapuze nach oben und versucht sie so dicht wie möglich um sein Gesicht zu schließen. Mir fällt auf, dass Zrrie dabei ein paarmal wie unabsichtlich über Edgars Wangen streicht.
In diesem Moment steckt Norrock den Kopf ins Zelt. «Thursen, ich muss mit dir reden!»
Thursen streicht mir über die Wange. «Ich bin bald zurück.»
Rieke kriecht ebenfalls ins Freie. Zrrie und ich, wir kümmern uns, so gut es geht, um Edgar. Es ist so wenig, was wir tun können. Weil wir kein Feuer machen können, weil wir ihm weder etwas Heißes zu trinken geben noch ihn in heiße Tücher wickeln können, rücken Zrrie und
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