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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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«Meine Leute suchen nach euch.»
    Ob die Nadelbäume ausreichen, uns zu verdecken? Wie gut, dass Thursen uns das Nachtlager in einer Senke hat aufschlagen lassen. «Vielleicht suchen sie auch nach dir», sage ich und beobachte den Hubschrauber, der in unsere Richtung fliegt.
    Er schüttelt den Kopf. «Ich war doch eure Geisel. Ich bin der, dem Haddrice die Arme ausreißen wollte, vergessen? Für sie bin ich längst tot.»
    Der Hubschrauber fliegt einen großen Bogen und entfernt sich immer weiter von uns. «Was soll das denn eigentlich mit dem Hubschrauber?», frage ich. «Die können hier im Wald unter den Bäumen doch gar nichts sehen.»
    Edgar guckt mich an. Erst mich und dann den Kocher. Ich kenne diesen Blick. Den Blick benutzte er immer dann, wenn ich im Unterricht wieder etwas nicht verstanden hatte, was ihm längst klar war. Doch diesmal verstehe ich schneller, als ihm lieb ist.
    «Mach den Kocher aus!», brülle ich hinüber zu Roff.
    «Wieso?», fragt er zurück.
    Ich zeige nach oben. «Die haben Wärmesuchgeräte!»
    In Edgars Gesicht lese ich eine seltsame Mischung von Freude darüber, dass ich seinen Gedanken so schnell folgen konnte und tiefer Enttäuschung. Hätte der Hubschrauber uns gefunden, wäre sein Leben gerettet gewesen.
    «Dachtest du, die befreien dich? Vergiss es», sagt Norrock mit seiner rostigen Stimme. «Wir hätten dir auf jeden Fall die Kehle durchgebissen, bevor deine Freunde gelandet wären.»
    Wir trauen uns nicht, den Kocher noch einmal anzumachen, geschweige denn ein Feuer. Die Nacht wird schlimm. Eisig, als wären wir statt in Berlin hoch oben in der Bergeinsamkeit auf dem Weg zu einem alpinen Gipfel. Dort, wo die Natur viel stärker, ungezähmter und mitleidloser ist als in der Stadt. Diese Kälte ist nicht nur unangenehm; nach Sonnenuntergang, wenn die Temperaturen nach und nach unter minus 15 Grad fallen, ist sie mörderisch. Roff, Zrrie und ich füllen unsere Zeltbehausung so hoch es geht mit Laub.
    Satt sein hilft ein bisschen gegen das Frieren. Die Wölfe haben gejagt und fressen draußen ihr rohes Fleisch. Wir Menschen kriechen in das neue Zelt. Thursen teilt eine Packung Brot mit mir und Rieke. «Ich wollte es eigentlich über dem Kocher rösten», sagt er undeutlich, weil ihm die Zähne klappern. Wir alle frieren, hauchen in unsere Hände und rücken näher zusammen.
    «Was ist mit Edgar?», frage ich.
    «Ich denke, der ist ein Shinan? Soll er sich doch mit seinem Engelsfeuer wärmen», knurrt Irudit, die als Mensch in unser Zweigezelt kommt, sich hinsetzt, die Knie bis unters Kinn hochzieht und die Arme darum schlingt.
    «Ich bringe ihm besser trotzdem ein Stück von dem Brot», seufze ich und wühle mich aus dem Laub. Als ich Arm und Kopf aus dem Eingang strecke, würde ich am liebsten sofort wieder umkehren. Im Zelt ist es schon kalt, aber hier draußen?
    Tapfer ziehe ich meine Mütze tiefer über die Ohren und krieche aus dem Eingang. Die Kälte klammert sich an mich wie ein bekralltes Gespenst. Meine Hand mit dem Brotstück zittert.
    Zrrie, die kleine schwarze Wölfin, hockt vor Edgar. Ich sehe die beiden in der Dunkelheit nur undeutlich. Edgar hat den Kopf in den Kragen seiner Jacke gezogen und hat es offenbar trotz der Kälte fertiggebracht, einzuschlafen. So friedlich sieht er aus, der Shinan-Junge, der uns mit freundlichem Lächeln und treuherzigem Blick in die Falle geschickt hat. Ob das Shinan-Feuer in seinem Inneren ihn so ruhig schlafen lässt? Wahrscheinlich eher die totale Erschöpfung. Das Laufen war für ihn sicher noch ungewohnter als für uns. Als ich näher komme, verwandelt Zrrie sich in einen Menschen. Es macht ihr immer mehr Mühe, Mensch zu sein, in letzter Zeit.
    «Das kann er essen, wenn er aufwacht», sage ich zu ihr und lege Edgar vorsichtig, ohne ihn zu wecken, das Brotstück in den Schoß.
    Zrrie sieht mich an. Ungläubig.
    «Was ist?», frage ich Zrrie. «Soll ich ihm nicht wenigstens ein bisschen zu essen geben?»
    «Das ist es nicht. Ich wundere mich nur darüber, dass du annimmst, er würde gleich ganz von selbst aufwachen und sein Brotstück verspeisen.» Zrrie legt eine Hand an seine Wange. Edgar wacht trotzdem nicht auf. Er muss wirklich tief schlafen, wenn er nichts von dem Energiefluss, der normalerweise zwischen Werwölfen und Shinanim entsteht, wahrnimmt. Vielleicht ist die Energieentladung noch nicht so stark, Edgar ist ja erst ein Novize. Trotzdem würde es ihn sicher erschrecken, wenn er wüsste, dass ihn gerade eine

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