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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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erfroren», antworte ich ihm.
    «Ich bin gar nicht gefesselt», wundert er sich, betrachtet seine Hände, als würden sie jemand anderem gehören.
    «Wozu auch? Du hast doch deinen persönlichen Wachwolf», flüstert Thursen an meinem Ohr zu Edgar hinüber.
    «Ach ja, Zrrie.» Das Lächeln liegt in Edgars Worten, als er tastend die Hand ausstreckt, sie im Fell zwischen Zrries spitzen Ohren vergräbt und mit einem leisen Seufzer wieder im Schlaf versinkt.
    Wir sind alle erschöpft. Ich schlafe auch wieder ein. Kein Dämmern, keine Angst um Edgar, kein Warten auf Thursen. Diesmal ist mein Schlaf ruhiger, tief gleite ich endlich hinab in die Welt der Träume.
    Und erwache mit einem Schrei.
    «Albtraum?», flüstert Thursen neben mir. Ich liege immer noch in seinem Arm.
    Ich nicke. Thursen zieht mich näher an sich heran und küsst mich. Fabians totes Gesicht mit den schreckgeweiteten Augen verblasst langsam aus meinen Gedanken. Ich weiß es, so hat mein Bruder niemals wirklich ausgesehen. Doch im Traum jagte es mir die Angst durch den Körper, die mich jetzt noch ganz zittrig macht.
    In Thursens Umarmung werde ich langsam ruhiger. Ich lasse die letzten Fetzen der Traumwelt hinter mir und tauche ein in die Realität. Hier bin ich, Luisa, hier in unserem notbehelfsmäßigen Unterschlupf im Grunewald. Zwischen den Zweigen sickert die erste Helligkeit des Tages hindurch und hüllt uns alle in graues Halblicht. Wen außer Thursen hat mein Schrei noch geweckt? Rieke liegt eingeschnürt in ihrem Mumienschlafsack und benutzt Norrocks zottiges Fell als Kopfkissen. Irgendwann in der Nacht muss es auch ihm draußen zu kalt geworden sein. Edgar liegt in seinem Schlafsack auf dem Rücken, eine Hand immer noch in Zrries Fell. Ich wünschte, er wäre nicht ganz so blass und schliefe nicht fast in der gleichen Haltung wie mein Bruder damals auf seinem Totenbett. Rawuhn ist wach, ich sehe seine Augen schimmern, doch er hebt nicht den Kopf.
    Thursen greift meine Schulter. «Komm mit raus», sagt er.
    Nacheinander kriechen wir aus unserem Unterschlupf, möglichst ohne auf unsere Mitschläfer zu treten.
    Draußen nimmt mir die entsetzliche Kälte den Atem. Die Sonne, die kaum das milchige Weiß des Winterhimmels durchdringt, hebt sich gerade über die Baumkronen. Sie wärmt kein bisschen. Der Wald liegt stumm unter einer Neuschneedecke aus winzig-pulvrigen Eiskristallen. Zum ersten Mal erscheint er mir nicht wie ein Zufluchtsort. Dieser tiefgekühlte Wald ist ohne Schutz für Menschen tödlich.
    Die Wölfe, die nicht in unserer Zweighütte schlafen mochten, liegen zusammengerollt als dunkle Hügel unter der Schneedecke und schlafen. Thursen zieht sich eine Strickmütze über den Kopf, greift meine Hand, wie er es so oft getan hat, und führt mich ein paar Schritte vom Lager fort, damit wir ungestört reden können. Meine Schritte quietschen im Schnee wie auf nassem Linoleum. Die Hand, die Thursen hält, ist warm, die andere vergrabe ich tief in meiner Jackentasche. Ich ziehe den Kopf frierend zwischen die Schultern. Thursen hält an und dreht sich zu mir. Eine Strähne seines nussbraunen Haares fällt in sein Gesicht. Ich lehne mich an ihn und spüre seinen warmen Atem auf meiner Wange, als er seine Arme um mich legt und mich noch näher zu sich zieht. Das Entsetzen sickert aus mir heraus, löst sich von mir wie eine giftige Wolke mit jedem Atemzug. Eine Krähe krächzt, nah bei uns. Widerwillig hebe ich den Kopf von Thursens Schulter und sehe mich um.
    Krähen, schwarzgraue Krähen. Es sind Dutzende, so viele, dass es fast unwirklich scheint. Rings auf den kahlen Ästen der Bäume hocken sie. Ihr Gefieder spiegelt den Sonnenaufgang wie schwarze Klingen. Sie blicken auf uns herab, als würden sie warten. Krächzen, gucken, warten. Sehen mich an. Sind sie wegen mir hier? Sie machen mir Angst.
    «Siehst du sie?», fragt Thursen.
    «Natürlich», flüstere ich. «Was soll das? Warum sind sie hier, so viele, mitten im Wald?»
    «Sie suchen uns.» Er bemerkt meinen verwirrten Gesichtsausdruck. «Keine Angst. Krähen fressen keine Menschen. Jedenfalls keine lebendigen!» Thursen streicht mir mit den Fingerknöcheln über die Wange.
    «Sind das wirklich nur Krähen?» Die Vögel, die immer mal wieder in der Stadt zu sehen sind, so selbstverständlich, dass man sie kaum bemerkt? Sind auch sie vielleicht in Wirklichkeit etwas anderes, so wie Wölfe, die zu Menschen werden, und Menschen, die halbe Engel sind?
    «Klar sind das Krähen. Pass auf!»,

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