Schattenblüte. Die Erwählten
Gesicht. «Ich habe die ganze Zeit ihre Blicke gesehen.»
«Werdet ihr Edgar leben lassen?»
«Das ist Norrocks Entscheidung.»
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45. Elias
RAQUEL hat ein Beruhigungsmittel bekommen. Als ich sie verlassen habe, schlief sie. Zurück in meinem Zimmer, hätte ich auch gerne etwas zur Beruhigung, etwas, das die schwarzen Träume von Toten fernhält. Kopfschüttelnd gucke ich auf meine paar Sachen. Das bisschen Wäsche, eine Hose zum Wechseln und der warme Pullover, den ich ausziehe und über den Stuhl hänge, ist alles, was ich jetzt noch habe. Mehr hatte nicht Platz in der Tasche, die Chiara mir gebracht hat. Alle meine restlichen Klamotten, meine Bücher, meine Möbel, alles, was mir über Jahre vertraut war, ist heute Nacht verbrannt. Wir Shinanim brauchen nicht viel Schlaf, doch ich merke, wie mich die fehlenden Stunden der letzten Nächte belasten. Die Müdigkeit zehrt an meinem Mut. Ein kurzer Anruf in der Überwachungszentrale sagt mir, dass die Hubschrauber niemanden entdeckt haben, auch keine weitere Feuerstelle. Die Kälte war schrecklich heute Nacht. Laut Wetterstation in Berlin-Dahlem fast minus 20 Grad. Zu kalt für Edgar, ohne Feuer. Ich will nicht an eine steifgefrorene Leiche denken. Ich will Edgar noch nicht verlorengeben, in letzter Zeit sind zu viele Leute gestorben.
Eine Stunde Schlaf gebe ich mir. Eine Stunde ist zu kurz, um zu träumen.
Als ich aufwache, fällt mein Blick als Erstes auf den Kerzenleuchter. Ausgerechnet Chiara hatte mich davor gewarnt, damit einen Brand auszulösen. Jetzt ist die ganze Wohnung, in der auch sie lebte, in Flammen aufgegangen. Ob es wirklich allen gutgeht? Chiara und Felix sollten sich um alles kümmern, solange ich weg bin. Ich wähle Chiaras Nummer, doch sie geht nicht ran. Felix erreiche ich ebenso wenig. Soll ich es bei Konstantin oder Selina versuchen?
In meiner Anrufliste erscheint Adrians Nummer. Vor wenigen Tagen noch hätte ich ihn als Erstes angerufen. Wenigstens habe ich so etwas wie ein Erinnerungsstück an ihn, den Zettel, den er mir zwischen die Socken geschmuggelt hat. Ich stecke ihn in meine Hosentasche und mache mich wieder auf den Weg zu der Krankenstation, um nach Raquel zu sehen.
Die Ärztin dort erklärt mir, dass das Beruhigungsmittel noch ein paar Stunden wirken wird. Sie bittet mich, ein wenig zu bleiben. Raquel hat unruhig geschlafen und im Schlaf geschrien. Möglich, dass eine vertraute Stimme sie beruhigt. «Aber sprich nicht so laut, damit sie nicht aufwacht», sagt die Ärztin.
Leise trete ich in Raquels Zimmer und setze mich auf einen Stuhl neben ihrem Bett. Was soll ich ihr erzählen? Ich sehe sie an, sehe ihr beim Schlafen zu, während meine Hand in meine Hosentasche wandert. Raquels Hand zuckt. «Wie geht es dir?», flüstere ich und erhalte natürlich keine Antwort. Adrians Zettel knistert fast unhörbar zwischen meinen Fingern. Adrian hatte mich schon öfter vor dem hohen Rat gewarnt. Was, wenn er damit doch nicht so falsch lag? Shinanim sollten einander doch trauen, oder? Raquel stöhnt leise, dreht sich ein wenig im Schlaf und zieht die Decke hoch bis unters Kinn. Was für ein Gegensatz, ihr dunkles Haar so lang und leicht gewellt auf der weißen Decke. Schwarz und weiß. Ich wünschte, das Leben wäre so einfach einzuteilen.
«Weißt du was?», flüstere ich weiter. «Adrian ist tot. Nick ist tot. Und Edgar bestimmt inzwischen auch. Wenn die Werwölfe ihn nicht gleich als Vergeltung für den Tod von Haddrice hingerichtet haben, dann ist er heute Nacht erfroren. Heute Nacht war es zu kalt, um zu überleben, wenn man keinen Pelz hat und kein Feuer.» Raquel schläft ruhig, also teile ich weiterhin meine Gedanken mit ihr. Was ich jetzt sage, das müsste ich eigentlich Adrian sagen. «Was, wenn du mit deinem Misstrauen recht hattest? Was, wenn es Vittorio gar nicht so wichtig war, dass die Hubschrauber Edgar rechtzeitig finden? Was, wenn er ihn von Anfang an verlorengab und die Suchtrupps nur das Versteck der Werwölfe finden sollen?»
Auffallend, wie gelassen Vittorio mit dem Tod umgeht
, hätte Adrian gesagt und genickt.
«Nicht mit irgendeinem Tod. Mit deinem Tod. Du warst mein Freund.»
Und mit dem deines Bruders
, hätte Adrian gesagt.
Vittorio hat deinen Bruder ebenso sterben lassen wie Edgar. Er hat ihn den Wölfen buchstäblich zum Fraß vorgeworfen.
«Vittorio konnte nicht wissen, dass mein Bruder rechtzeitig zum Treffen in der Waldbühne verhaftet wurde. Schließlich hat die Polizei lange
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