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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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sagt Thursen. Er streckt langsam den Arm aus. Eine der Krähen fliegt auf, umkreist uns und landet lautlos auf seinem schwarzen Mantelärmel.
    Ja, es ist eine ganz normale Krähe. Ich sehe in die kleinen schimmernden Vogelaugen, die mich immer noch betrachten. Nur ist diese Krähe auf Thursens Arm gelandet wie ein abgerichteter Jagdfalke. «Wie hast du das gemacht?»
    «Ich habe sie nur eingeladen. Sie wollen schon die ganze Zeit zu uns. Das ist der Grund, warum sie da oben auf den Bäumen sitzen. Warte ab, beweg dich nicht, und sie landen auf deinen Schultern und deinem Kopf. Ich habe die Sache nur ein bisschen beschleunigt.»
    Sie wollen zu mir? Auf meinem Kopf landen? «Thursen, das ist doch Unsinn! Krähen sind wilde Vögel. Die wollen nicht zu Menschen, nicht so nah. Zu mir wollte jedenfalls noch nie eine Krähe.»
    Thursen ist ganz ernst. «Wirklich nicht?»
    Er hat recht. Mit einem Mal fallen sie mir wieder ein, die Krähen, die mir in letzter Zeit begegnet sind. Die Krähen, die, statt sich mit den anderen auf Bäumen zu versammeln und ihr Palaver abzuhalten, am Wegrand sitzen und mir hinterherstarren. Die schwarzgrauen Krähen, die, wenn ich stehen bleibe, vorsichtig näher hopsen, bis ich fliehe. Erst waren es mal ein oder zwei. Doch in letzter Zeit ist es immer öfter passiert. «Das muss an Berlin liegen, dieser seltsamen Stadt voller Füchse, Wanderfalken und Waschbären», sage ich Thursen. «Es gibt hier ja auch zahme Spatzen in den Gartenlokalen, warum keine zahmen Krähen? Die Krähen kommen jedenfalls erst zu mir, seit ich in Berlin bin.»
    Er schüttelt den Kopf. «Nicht erst seit Berlin. Seit dein Bruder tot ist, stimmt’s?»
    «Wie kommst du darauf?» Was kann er ahnen von der Krähe, die letztes Jahr auf der Beerdigung meines Bruders im Baum neben dem offenen Grab saß, krächzte und auf mich herabblickte, als ich ein paar letzte Blumen auf seinen Sarg warf? Das war in Hamburg, da kannte ich Thursen noch gar nicht.
    Thursen bewegt die Hand, sodass die Krähe auf seinem Arm weiter Richtung Schulter klettert. Und weil ich immer noch vor ihm stehe und von seinem anderen Arm gehalten werde, kommt sie auch weiter zu mir.
    «Das ist einfach. Die Krähen kommen immer, wenn man von den Toten träumt.»
    «Thursen, das ist doch …»
    «Und jetzt sag mir nicht, du träumst nicht von ihm.»
    «Natürlich tu ich das. Das weißt du.» Ich will mich von ihm losmachen, damit ich der Krähe entkommen kann. Doch er hält mich fest, sein Arm um meine Taille geschlungen. Mit dem schwarzen Mantel, den herabhängenden Haaren und dem großen, dunklen Vogel auf der Schulter sieht er aus wie eine Gestalt aus alten Sagen. Einer von denen, die geheimes Wissen besitzen über Leben und Tod. Und vielleicht tut er das sogar.
    «Es ist schlimmer geworden mit den Träumen seit deinem Ausflug durch das Tor, oder?», sagt er.
    «Ja. Aber das ist ja auch kein Wunder! Ich habe so sehr gehofft, dass ich Fabi sehen kann. Doch er war nicht mehr da. Ich habe den Gang gesehen, dem er gefolgt sein muss auf seinem Weg ins Licht. Ich bin zu spät gekommen, und dann hatte ich nicht den Mut, ihm nachzugehen. Er muss doch furchtbar enttäuscht sein!»
    Die Krähe sitzt auf Thursens Schulter und starrt mir mit ihren Käferaugen direkt ins Gesicht, als wüsste sie genau, was er meint. «Du hast seitdem mehr von diesen Träumen, weil die ganze schwarze Energie noch an dir hängt.»
    «Schwarze Energie?» Meint er die Schatten, die Elias um mich herum gesehen hat? «Thursen, ich bin kein Werwolf mehr. Ich bin jetzt wieder ein Mensch.»
    «Und das macht es schlimmer. Werwölfe können mit den Schatten leben. Sie umgeben uns.»
    «Thursen, du bist auch wieder Mensch, schon länger als ich.»
    «Na gut. Sie umschweben die Werwölfe und behindern sie nicht, weil sie zu ihnen gehören. Die Krähen folgen nicht den Wölfen, sondern den Schatten. Bei dir ist es etwas anders. Die Schatten vergiften deine Träume. Wir müssen sie schnellstens loswerden.»
    «Und wie? Wieder mit einem geheimen Ritual? Norrocks sogenannte Wolfsnacht hat mir gereicht.»
    «Du musst nichts tun. Die Krähen werden sie für dich verjagen. Sie hassen und jagen die schwarzen Albträume aus dem Totenreich seit Urzeiten.»
    «Das meinst du doch nicht ernst? Die Krähe hat einen total harten Schnabel! Sie macht mir Angst, ehrlich.»
    «Du als Mensch machst ihnen viel mehr Angst, glaub mir.» Er lässt mich los, vorsichtig, damit die Krähe auf seiner Schulter nicht auffliegt, und

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