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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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macht einen Schritt von mir weg. Sieht mir in die Augen. «Vertraust du mir?»
    «Ja.» Ich vertraue ihm wie keinem Menschen sonst.
    Er legt mir die Hände auf die Schulter. «Dann halt ganz still. Hab keine Angst. Ich rufe sie für dich her.»
    Thursen sagt nichts, statt sie mit Worten zu rufen, sieht er stumm zu den Vögeln hin. Sie scheinen ihn trotzdem zu verstehen. Die Krähen fliegen auf und umkreisen mich. Zögernd werden ihre Bahnen immer enger. Ob sie wirklich Angst vor mir haben? Als die erste auf meiner Schulter landet, und gleich darauf die zweite und noch eine, als ihre Flügelfedern meine Wangen und meine Ohren streifen, in denen ihr Federrauschen wie ein Wintersturm klingt, da reiße ich meine Arme hoch. Es ist mir egal, ob sie meine Schatten vertreiben können. Sie sind einfach viel zu nah. Ich will mich nur noch vor ihren hackenden Schnäbeln und ihren Teertropfenaugen schützen.
    Thursen fängt meine Hände, ehe ich die Vögel schlagen kann. «Ganz ruhig», raunt er. Er hält meine Hände, hält sie fest, während ich mit geschlossenen Augen zitternd ertrage, dass die schwarzen Krähen mit ihren mächtigen Schnäbeln in meinem Haar wühlen, ziehen, zupfen. Krallenfüße, die aufgeregt hin und her trippeln auf mir, als kämpften sie mit einem unsichtbaren Feind. Dann wieder rauschen Federn an meinen Ohren, als flöge ich selbst davon.
    Endlich ist kein Gewicht mehr auf meinen Armen. Keine Füße, keine Schnäbel. Ich öffne die Augen.
    «Es ist vorbei», flüstert Thursen, gibt mir einen Kuss und zieht mich an sich. Als der Schreck endlich verfliegt, merke ich, dass er nicht zu viel versprochen hat. Die schrecklichen, drängenden, dunklen Gedanken sind weg aus meinem Kopf, als wären sie mit den Krähen davongeflogen. Was bleibt, ist ruhige Trauer, nicht schön, aber leichter zu ertragen. Meine Verzweiflung darüber, versagt zu haben, wird zu sanfter Wehmut. Auf einmal erinnere ich mich daran, dass ich ihn gehen lassen wollte, meinen Bruder. Wir Geschwister müssen uns trennen. Mein Leben ist nicht länger seins. Seins ist vorbei, und meins geht noch ein Weilchen weiter. So lange leben wir in verschiedenen Welten.
    «Warum sind es so viele Krähen?»
    Thursen schüttelt den Kopf. «Das hat mit deinen Gefühlen nichts zu tun, das ist etwas anderes. Norrock hat in letzter Zeit das Tor zur Totenwelt ein wenig zu oft geöffnet.»
    «Er wollte Sjöll sehen.»
    «Ein schöner Torwächter ist er», sagt Thursen. Ich spüre seinen Finger, der über meine Wange streicht. «Ich frage mich manchmal, ob er überhaupt eine Ahnung hat, was er tut.»
    «Was meinst du damit?»
    «Nicht nur du hast Schatten mitgebracht. Jedes Mal, wenn das Tor geöffnet wird, entkommt etwas aus der Totenwelt. Gedanken an die Toten. Schuldgefühle und Albträume drängen sich am ehesten durch die Spalten.»
    «Und diesmal konnte Norrock das Tor nicht wieder schließen, weil er angegriffen wurde.»
    Thursen schüttelt den Kopf. «Das Tor war ja schon fast zu. Ich habe es geöffnet, als ich zu dir durchgebrochen bin.»
    «Ich hatte solche Angst, du hörst mich nicht.»
    «Ich käme von überallher zu dir.»
    Ich fühle mit den Fingerspitzen über die kaum verheilte Narbe in seinem Gesicht. «Doch wenn ich nicht in die Totenwelt gegangen wäre, dann hättest du mir nicht folgen müssen, und all das wäre nicht passiert.»
    «Du wusstest doch nicht, was du tust.»
    «Aber das alles war so sinnlos. Ich habe meinen Bruder gar nicht gesehen. Stattdessen musstet ihr kämpfen, Norrock ist verletzt, du bist verletzt, Adrian und der andere Shinan sind tot. Mein Gott, ich wünschte so sehr, ich könnte es ungeschehen machen.»
    «Das kann man doch nie.»
    Ich atme ganz dicht an seinem Gesicht. Mir gefällt die Vorstellung, dass ich seinen Atem einatme. Ich hasse die Kälte, die ihn in die warme Kleidung zwingt und mich daran hindert, seine Haut zu berühren. Ich wünschte, es wäre eine Sommernacht und es gäbe nur uns zwei, in nichts als das silberne Mondlicht gehüllt. Meine Hände wären überall auf seiner samtweichen Haut.
    «Komm zurück in unseren Unterschlupf und lass uns noch ein wenig schlafen», sagt Thursen.
    Selbst in seinem Arm gekuschelt merke ich, wie ich zittere. Doch diesmal ist es nur die Kälte. Die eisige schneidende Kälte. Wir unterhalten uns flüsternd auf dem Weg zurück.
    «Etwas ist passiert zwischen Edgar und Zrrie, während wir in der Waldbühne gekämpft haben.»
    «Ich weiß», sagt Thursen. Trauer huscht über sein

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