Schattenblume
der Felsbank, als wäre sie an jenem Tag eingeschla‐
fen, während sie auf Jeffreys Rückkehr wartete.
Die Frage war, hatte Robert Julia wirklich umgebracht?
Gott, er hatte sie gehasst dafür, dass sie das Gerücht von der Vergewaltigung verbreitet hatte. Anders als Jeffrey,
der die Sache damit abgetan hatte, dass Julia nur Aufmerk‐
samkeit wollte, hatte in Robert ein tödlicher Hass gebro‐
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delt. Vielleicht war es für Jeffrey einfacher gewesen, weil er wusste, dass er im Herbst nach Auburn ging – oder
auch, weil er wusste, wie unbegründet die Anschuldigun‐
gen waren. Jedenfalls hatte er sich die Sache nicht so zu Herzen genommen wie Robert. Vielleicht war Robert so
wütend gewesen, weil er schuldig war. Jemand musste das
Baby gezeugt haben.
Jeffrey holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.
Robert konnte sie nicht umgebracht haben. Er wusste
nicht einmal, wie sie gestorben war. Doch irgendjemand
war es gewesen. Jemand, der mit Julia in der Höhle ge‐
wesen war. Vielleicht war es zum Streit gekommen, oder
vielleicht hatte der Typ einfach die Nase voll von ihr. So was hatte Jeffrey bei der Polizei in Birmingham andauernd
erlebt. Es war deprimierend, aus erster Hand die erbärm‐
lichen Ausreden zu hören, mit denen Leute begründeten,
warum sie jemandem das Leben genommen hatten. Gab es
einen Mann in Sylacauga, der sonntags zur Kirche ging,
nach Feierabend mit den Kindern im Garten Baseball spielte
und sich einredete, er sei trotz allem ein braver Mann,
denn Julia Kendall hätte es nicht anders gewollt? Bei dem Gedanken wurde Jeffrey schlecht.
Er stellte den Fuß auf den Couch tisch und sah sich in der
feuchten Höhle um. Damals, als sie die Höhle entdeckt
hatten, war es der beste Ort der Welt gewesen. Jetzt war es
nur noch ein feuchtes Loch. Schlimmer. Es war ein Grab.
Er richtete sich so weit wie möglich auf und ging hinaus in den Sonnenschein. Langsam machte er sich auf den
Weg zurück zum Bestattungsinstitut und überlegte, was
als Nächstes zu tun war. Er wollte Antworten, wollte die Sache ein für alle Mal klären. Robert würde ihm nicht helfen, doch als Cop war es Jeffrey gewohnt, dass vom Haupt‐
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verdächtigen keine Hilfe zu erwarten war. Vielleicht war
das die Lösung – vielleicht sollte Jeffrey den Fall endlich als Polizist betrachten und nicht als Roberts Freund. So gesehen, hatte er einen wichtigen Schritt übersprungen: Er
hatte nicht mit der Familie des Opfers gesprochen.
Ein paar Jahre bevor er nach Grant County zog, hatte
sich Jeffrey zwei Wochen freigenommen und war mit dem
Wagen durch den alten Süden gefahren, um all die histo‐
rischen Stätten zu besichtigen, über die er als Heranwachsender gelesen hatte. Er hatte sich spontan zu der Reise entschieden, weil er für eine Weile aus Birmingham verschwinden musste, nachdem er einer gewissen Assistentin
der Bezirksstaatsanwaltschaft, mit der er eine Zeit lang ge‐
gangen war, erklärt hatte, dass er sie auf keinen Fall heira‐
ten würde. Aus heutiger Sicht waren diese zwei Wochen
die schönsten seines Lebens gewesen.
Unter anderem hatte er das Biltmore House, Belle Monte
und Monticello, den Landsitz von Thomas Jefferson, be‐
sucht. Er hatte Kriegsschiffe und historische Schlachtfel‐
der besichtigt und war den Weg abgeschritten, den Gene‐
ral Grant nach Atlanta genommen hatte. In Atlanta hatte
er die alte Villa besucht, wo Margaret Mitchell den größ‐
ten Teil von Vom Winde verweht geschrieben hatte, von ihr liebevoll, aber durchaus treffend, «die Bruchbude» genannt.
Und dann war Jeffrey per Zufall in einem klassizisti‐
schen Prachtbau gelandet, der «Swan House» hieß. Wie
alle, die es in Georgia zu etwas gebracht hatten, waren die
Inmans mit Baumwolle reich geworden, und ihr Haus
sollte diesen Reichtum gebührend zum Ausdruck bringen.
Sie heuerten den örtlichen Architekten Philip Trammell
Shutze an, der einen meisterhaften Entwurf vorlegte:
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Swan House hatte die prächtigsten Zimmer, die Jeffrey
je gesehen hatte, darunter ein Bad aus rosa Marmor, der
kunstvoll gestrichen wurde, um wie weißer Marmor aus‐
zusehen, weil die Dame des Hauses es sich anders über‐
legt hatte. Am Ende der Besichtigung hatte sich Jeffrey
in die riesige Bibliothek geschlichen und stundenlang die
Bücher in den Regalen bestaunt. Ehrfurcht und Demut
erfüllten ihn, der noch nie etwas Vergleichbares gesehen
hatte, damals.
Im krassen Gegensatz zu Swan
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