Schattenblume
Gefängnis gestorben.»
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«Das tut mir Leid», sagte Jeffrey und stakste über den
klebrigen Teppich. Als er den Stuhl sah, blieb er lieber stehen.
«Sie entschuldigen sich aber für 'ne Menge, wofür Sie
nix können», sagte die Frau und tastete auf dem Tisch her‐
um. Jeffrey sah den Teller mit Keksen und fragte sich, wie sie die ohne Zähne aß. Als sie sich einen Keks in den Mund
steckte, begriff er, dass sie sie lutschte.
Mit dem Mund voll Krümel redete sie weiter. «Seit zwei
Tagen geht das Kabelfernsehen nich mehr. Ich bin fuchs‐
teufelswild gewesen – mitten in meiner Lieblingssendung
hat das Ding den Geist aufgegeben.»
Jeffrey wollte wieder sagen, dass es ihm Leid tat, aber
er beherrschte sich. «Können Sie mir von Ihrem Enkel er‐
zählen?»
«Oh, er war 'n guter Junge», sagte sie, ihr stoppeliges
Kinn zitterte. «Is er noch beim Bestatter?»
«Ich weiß nicht. Ich glaube schon.»
«Weiß nich mal, wo ich das Geld für seine Beerdigung
hernehmen soll. Ich hab doch nur die Sozialhilfe und das bisschen von der Spinnerei.»
«Haben Sie dort gearbeitet?»
«Bis ich nix mehr sehen konnte», sagte sie und schnalz‐
te mit der Zunge. Sie schwieg einen kurzen Moment, dann
schluckte sie den aufgeweichten Keks hinunter. «Das war
vor vier, fünf Jahren, schätz ich.»
Sie sah aus, als ob sie achtzig wäre, aber wenn sie bis vor
kurzem in der Spinnerei gearbeitet hatte, konnte sie noch nicht so alt sein.
«Luke wollte, dass ich mich operieren lass», sie zeigte
auf ihre Augen. «Aber ich hab kein Vertrauen zu den
Ärzten. Ich war noch nie im Krankenhaus. Bin nich mal in 380
einem geboren», erklärte sie stolz. «Ich sag immer, nimm
hin, was Gott für dich bereithält.»
«Das ist eine gute Einstellung», sagte Jeffrey, auch
wenn er nicht überzeugt war, ob dass auch für grauen Star
galt.
«Hat sich um mich gekümmert, der Junge, o ja», sagte
die alte Frau. Sie nahm sich noch einen Keks. Jeffrey betrachtete die kleine Küchenzeile und fragte sich, ob das
alles an Lebensmitteln war, was die Frau im Haus hatte.
«Sagen Sie, war Luke vielleicht in irgendwas verwi‐
ckelt? Vielleicht hatte er mit den falschen Leuten zu tun?»
«Hat bei den Leuten die Dachrinnen sauber gemacht
und die Fenster geputzt. So hat er sein Geld verdient. Mit ehrlicher Arbeit.»
«Verstehe.»
«Er hatte auch schon mal Schwierigkeiten mit dem
Gesetz, aber welcher Junge hat das nich? War immer ir‐
gendwas, aber der Sheriff is immer fair gewesen. Luke hat
es den Leuten zurückgezahlt, und damit hatte es sich.» Sie
steckte sich den Keks in den Mund. «Ich hätt so gern gesehen, wenn er 'n nettes Mädchen gefunden hätte, mein
Luke. Das Einzige, was ihm gefehlt hat, war eine, die sich um ihn kümmert.»
Jeffrey vermutete, Luke Swan hatte sehr viel mehr ge‐
fehlt als das, aber er behielt seine Meinung für sich.
«Ich hab gehört, dass er was mit der Frau von diesem
Hilfssheriff hatte.»
«Ja, das sagt man.»
«Hat immer ein Händchen für Frauen gehabt.» Aus
irgendeinem Grund fand sie die Tatsache urkomisch. Sie
klopfte sich auf die Knie, und Jeffrey sah ihr blankes Zahn‐
fleisch und den Keks in ihrem Mund, als sie lachte.
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Als sie fertig war, fragte er: «Hat er hier bei Ihnen gewohnt?»
«Dahinten. Ich hab hier auf dem Sofa geschlafen oder
manchmal im Sessel. Ich kann überall schlafen. Als ich
klein war, hab ich da draußen auf dem Baum geschlafen.
Mein Daddy is manchmal rausgekommen und hat ge‐
brüllt: ‹Mädel, komm endlich vom Baum runten, aber da‐
von bin ich nich mal aufgewacht.» Sie schmatzte. «Wollen
Sie sein Zimmer sehen? Das wollte der andere Hilfssheriff auch.»
«Welcher Hilfssheriff?»
«Reggie Ray», sagte sie. «Guter Junge. Manchmal singt
er im Kirchenchor. Ich schwor's, der Junge hat 'ne Stimme
wie 'n Engel.»
Jeffrey fragte sich, warum Reggie nicht erzählt hatte,
dass er bei Luke Swan zu Hause gewesen war. Reggie ar‐
beitete für den Sheriff und der Besuch war Routine, aber Jeffrey wunderte sich doch.
Er fragte: «Hat Reggie was gefunden?»
«Nich dass ich wüsste», sagte Sie. «Sie können gerne
selbst nachschauen.»
«Vielen Dank», sagte Jeffrey und tätschelte ihren Arm,
bevor er in den hinteren Teil des Trailers ging.
Er musste die Schiebetür zum Bad schließen, um nach
hinten zu kommen, doch zuvor blickte Jeffrey in das
schmutzigste Klo, das er je gesehen hatte. Die Wände wa‐
ren aus Spritzplastik, das
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