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Schattenblume

Schattenblume

Titel: Schattenblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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sagte der Mann, der innen hinter der Tür
    stand. Er trug eine schwarze Skimaske mit mandelförmi‐
    gen Löchern für Augen und Mund. Lena wurde plötzlich
    von einer lähmenden Angst gepackt. Frank hatte nichts
    von Masken gesagt. Die Männer hatten sie also übergezo‐
    gen, um von den Sanitätern nicht erkannt zu werden. Was
    das für die Geiseln bedeutete, die ihre Gesichter bereits kannten, wollte sich Lena nicht ausmalen.
    «Immer langsam», sagte er und winkte sie herein. In
    einer Hand hielt er eine abgesägte Schrotflinte – die Wing‐
    master, die Frank gesehen hatte –, in der anderen eine Sig
    Sauer. Die kugelsichere Weste schmiegte sich eng an seine
    Brust, und sie entdeckte noch eine Pistole, die im Bund sei‐
    ner Armeehose steckte.
    Lena merkte erst, dass sie stehen geblieben war, als
    Molly flüsterte: «Lena!»
    Lena zwang sich, ihre Füße in Bewegung zu setzen. Sie
    versuchte, über Matt hinwegzusteigen, ohne hinzusehen,
    doch sie hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu
    müssen. Ihre Turnschuhe hinterließen blutige Abdrücke.
    Im Gebäude war es mindestens zehn Grad wärmer als
    draußen auf der Straße. Hinter der Anmeldung stand ein

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    zweiter Bewaffneter, eine AK‐47 lag auf dem Tresen.
    Auch er trug eine Skimaske, doch seine hatte einen sand‐
    uhrförmigen Ausschnitt im Gesicht, der ihm mehr Platz
    zum Atmen ließ. Seine Augen waren völlig ausdruckslos,
    und er sah Lena und Molly kaum an, als sie den Eingangsbereich betraten.
    Der Erste, wahrscheinlich Smith, versuchte die Tür zu
    schließen, doch Matt lag im Weg. Mit voller Wucht
    rammte er die Tür in die Leiche, aber der Tote bewegte sich
    nicht. «Scheiße», murmelte er und trat Matt in die Seite.
    Er trug Militärstiefel mit Stahlkappen, und es knackte laut, wahrscheinlich hatte er Matts Rippen gebrochen.
    Smith sagte: «Los, helft mir, den Wichser hier wegzu‐
    räumen.»
    Lena war wie angewurzelt mit dem Sandwich‐Karton
    stehen geblieben. Molly sah sie panisch an, dann setzte sie
    die Kiste mit dem Wasser ab. Sie ging zu Matt, packte ihn an den Füßen und zerrte ihn hinein.
    «Nein», sagte Smith. «Raus. Wirf den Wichser raus.» Er
    wischte sich mit dem Arm über den Mund. «Der Wichser
    stinkt.» Als Molly zu Matts Kopf ging, trat Smith noch
    einmal zu. «Verdammter Drecksack», knurrte er, und in
    seiner Stimme lag eine Schärfe, die Molly Angst einflößte.
    Er holte aus und trat Matt mehrmals in die Eier. Das tote Fleisch gab kaum nach, und das Geräusch erinnerte Lena
    an Nan, wenn sie im Garten mit dumpfen Schlägen den
    Teppich ausklopfte.
    Nach einem letzten Tritt knurrte er Molly an: «Worauf
    wartest du noch? Schaff den Drecksack raus.»
    Man konnte sehen, dass Molly nicht wusste, wo sie zu‐
    packen sollte. Wie immer trug Matt ein kurzärmeliges
    weißes Hemd und eine Krawatte aus der Zeit, als Jimmy

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    Carter noch im Weißen Haus saß. Das Hemd war blut‐
    getränkt, und an den Armen klafften neue Wunden, wo
    Smith zugetreten hatte. Die frischen Verletzungen hatten
    eine seltsam violette Farbe und bluteten nicht.
    Smith stieß Molly mit dem Stiefel an. Molly wich ver‐
    ängstigt zurück. Sie versuchte Matt am Hemd zu packen,
    doch es riss. Die Knöpfe sprangen klimpernd über den
    Fußboden, und Matts weißer Fischbauch quoll über den
    Hosenbund. Schließlich griff Molly ihm unter die Achseln
    und zog.
    Die Leiche bewegte sich keinen Zentimeter, und gerade
    als Smith ihr wieder einen Tritt geben wollte, sagte Molly:
    «Nein.»
    Smith schien seinen Ohren nicht zu trauen. «Was hast
    du da gesagt?»
    «Tut mir Leid», sagte Molly und blickte an sich hinun‐
    ter. Ihr Kittel war mit schwarzem Blut verschmiert. Sie sah Lena an: «Um Himmels willen, hilf mir doch endlich.»
    Lena sah sich um, als wüsste sie nicht, wo sie den Karton
    abstellen sollte. Sie wollte Matt nicht anfassen. Sie konnte seine Leiche nicht anfassen.
    Smith richtete die Wingmaster auf sie. «Mach schon.»
    Lena stellte die Kiste ab. Ihre Lungen rasselten beim Atmen. Sie presste die Kiefer zusammen, damit ihre Zähne
    nicht klapperten. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch
    nie solche Angst gehabt. Warum? Es hatte Zeiten gege‐
    ben, als sie den Tod begrüßt, sich sogar nach ihm gesehnt hatte. Doch in diesem Moment hatte sie panische Angst zu
    sterben.
    Irgendwie schaffte sie es, sich vor Matts Füße zu knien.
    Sie starrte die billigen schwarzen Halbschuhe an, den aus-gefransten Saum seiner alten Hose, die

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