Schattenblume
in
verschiedenen Altersstufen. Jennifer entwickelte sich von
einem in Decken gehüllten Bündel zu einem frühreifen
Mädchen. Jared wuchs von einem nuckelnden Säugling zu
einem schlaksigen Halbwüchsigen heran. Jeffrey schätzte,
dass er ungefähr neun sein musste, und konnte sich gut in
das Kind hineinversetzen. Damals waren seine Arme und
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Beine viel zu lang gewesen, wie bei einem Fohlen, das gerade laufen lernte. Jared hatte Nells schwarzes Haar und
den gleichen überheblichen Ausdruck um das Kinn. Er sah
Possum überhaupt nicht ähnlich, dafür war Jennifer un‐
übersehbar die Tochter ihres Vaters. Sie hatte Possums
Augen und seine hängenden Schultern und strahlte insge‐
samt die gleiche harmlose Freundlichkeit aus, die Possum
mehr als einmal den Hals gerettet hatte.
Jeffrey nahm noch einen kräftigen Schluck Bier, es
schmeckte gar nicht mehr so schlecht. Er dachte an Robert
und daran, durch welche Hölle er gegangen sein musste,
als Jessie das Kind verlor. Die Ehe war ein merkwürdiges Tier, immer unberechenbar, manchmal sanftmütig, manchmal böse. Als Jeffrey noch auf Streife gegangen war, hatte
er die Notrufe wegen häuslicher Gewalt am schlimmsten
gefunden. Das war diese seltsame, undefinierbare Verbin‐
dung zwischen Mann und Frau. Eben noch wollten sie sich
gegenseitig umbringen, und im nächsten Moment gingen
sie demjenigen an die Gurgel, der sich zwischen sie stellte,
in diesem Fall dem Polizisten. Erst schrien sie sich an und warfen sich jedes erdenkliche Schimpfwort an den Kopt
und dann warfen sie sich förmlich vor den Streifenwagen,
um ihren Ehepartner vor dem Gefängnis zu retten.
Und alles wurde noch schlimmer, wenn Kinder da wa‐
ren. Als Streifenpolizist hatte er immer versucht, sie aus der Schusslinie zu halten – eine schwierige Aufgabe, denn die meisten Kinder glaubten, zwischen ihren Eltern schlichten zu können, indem sie sich einmischten. Jeffrey hatte
es als Kind oft genug selbst versucht, er wusste, was Kinder
dazu brachte. Aber er wusste auch, wie sinnlos es war.
Nichts war schlimmer, als bei jemand zu klingeln und dort ein Kind wimmernd mit einem blauen Auge oder einer blu-265
tigen Lippe in der Ecke zu finden. Wahrscheinlich kanali‐
sierte Jeffrey einen Teil seiner eigenen Wut, wenn er einen
gewalttätigen Familienvater hinter Gitter brachte. Bis vor
ein paar Jahren hatte er das sogar als Bonus seines Ge‐
schäfts empfunden.
Jeffrey ließ die leere Flasche in den Mülleimer fallen
und nahm sich das nächste Bier. Diesmal öffnete er die
Flasche an der Kante der Ladentheke. An den Kratzern
im Holz sah er, dass Possum es wahrscheinlich genauso
machte.
Er legte den Kopf zurück und trank einen großen
Schluck Bier. Sein Magen protestierte knurrend, und Jef‐
frey fiel ein, dass er seit dem gebratenen Speck heute Mor‐
gen bei Nell nichts gegessen hatte. Doch jetzt war es ihm egal. Er hatte die zweite Flasche schon halb leer, als er die
Toilettenspülung hörte.
«Hallo, Slick.» Possum kam vom Klo und knöpfte sich
die Hose zu. Er warf einen Blick auf das Bier. «Bedien dich. »
«Meinst du hier?», fragte Jeffrey und drückte auf den
«No Sale»‐Knopf der Registrierkasse. Die Schublade mit
den ordentlich gestapelten Geldscheinen sprang auf. «Hier
sind mindestens zweihundert Dollar drin.»
«Zweihundertdreiundfünfzig einundachtzig», sagte Pos‐
sum und nahm sich ebenfalls ein Bier. Er machte es am
Tresen auf und trank einen Schluck.
Jeffrey trank sein Bier aus und nahm sich das nächste.
Possum warf einen Blick auf die zwei leeren Flaschen, doch
er hielt den Mund.
Jeffrey sagte: «Ich schätze, das mit Robert hast du schon
gehört.»
«Was?»
Jeffrey hatte ein flaues Gefühl im Magen. Er nahm noch
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einen kräftigen Schluck und hoffte, dass ihm bald endlich alles egal sein würde. «Er hat sich gestellt.»
Possum verschluckte sich an seinem Bier und musste
husten. «Was?»
«Ich war gerade bei Jessies Mutter. Robert sagt, er hat es
getan.»
«Was getan?»
«Den Typ erschossen.»
«Luke Swan», flüsterte Possum. «Meine Fresse.»
«Jessie hat ihn betrogen.»
Possum schüttelte den Kopf «Das glaube ich nicht.»
«Mir musst du nicht glauben. Red mit Robert. Er sagt,
er hätte die beiden erwischt, wie sie es getrieben haben.»
«Warum sollte sie ihn betrügen?»
«Weil sie eine Schlampe ist.»
«So darfst du nicht über sie reden.»
«Warum nicht, Possum? Weil es stimmt?» Jeffrey
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