Schattenblume
ich immer an ihm rumgemeckert habe, und er ist mir auf die Nerven gegangen, weil er nicht zugeben wollte, dass ich Recht hatte.»
Sara starrte vor sich hin.
«Er hätte mich geheiratet, weil er anständig ist», sagte Nell. «Aber ich wollte nicht, dass mich jemand aus Anstand heiratet.» Der Hund rollte sich auf den Rücken, und Nell kraulte ihm den Bauch. «Ich liebe Possum. Am Anfang fand ich ihn nur nett, doch als Jeffrey weg war, hat er zu mir gestanden, und wir hatten Jared und später Jen – nicht viel später.» Sie lächelte vor sich hin. «Aber jetzt haben wir eine Familie, ein gemeinsames Leben. Possum ist ein guter Mann. Er arbeitet ein paar Schritte von hier entfernt und ruft immer noch an, wenn es später wird. Es macht ihm nichts aus, mir Aspirin oder Tampons aus der Drogerie mitzubringen, und er hat nie zu mir gesagt, ich sei fett geworden, selbst als ich nach Jens Geburt drei Jahre lang in Latzhosen rumgelaufen bin. Ich weiß den ganzen Tag, wo er ist, und wenn ich in der Kirche furzen würde, würde er behaupten, er sei es gewesen.» Sie sah Sara scharf an. «Mir gefällt mein Leben genau so, wie es ist.»
«Findest du nicht, Jeffrey hat ein Recht, es zu erfahren?»
«Wozu?», fragte sie. «Possum ist Jareds Vater. Er hat ihm die Windeln gewechselt und ist mit ihm im Zimmer auf und ab gelaufen, wenn ich vor Erschöpfung halb ohnmächtig war. Er unterschreibt seine Zeugnisse und ist Trainer bei der Little League. Keinem von beiden fehlt irgendwas, und es gibt keinen Grund, schlafende Hunde zu wecken.»
«Ich verstehe.»
«Wirklich?»
«Ich werde ihm nichts sagen», erklärte Sara und fragte sich, ob sie ein solches Geheimnis für sich behalten konnte.
«Es ist nicht gut, dass Jeffrey hier ist», sagte Nell. «Ich war weiß Gott sauer auf ihn, weil er so lange weggeblieben ist, aber hier ist einfach zu viel passiert.» Sie schlüpfte aus der Sandale und kraulte den Hund mit den Zehen. «Aus Jeffrey ist am Ende doch noch was geworden. Er hat ein gutes Herz, genau wie Possum, man muss nur ein bisschen tiefer graben, bis man es findet. Ich habe von Jeffrey nichts anderes erwartet; ich habe immer gedacht, dass aus ihm noch was wird, wenn er nur hier rauskommt …» Sie zeigte auf die Straße. «Raus hier, wo jeder glaubt, alles über jeden zu wissen, und alle dir ihre Meinung auf die Nase binden.»
«Reggie Ray hat mir eine Kostprobe davon gegeben.»
«Hör nicht auf den Hinterwäldler», schimpfte sie. «Er ist der Schlimmste von allen. Nennt sich Wiedertäufer. Aber der muss sich noch ein paar Mal mehr taufen lassen, bis ein anständiger Mensch aus ihm wird.»
«Er schien ganz nett.»
«Dann hast du nicht genau hingeguckt», warnte Nell. «Zwei Sachen musst du über diese Stadt wissen, Sara: DieRays glauben, ihre Scheiße stinkt nicht, und die Kendalls sind das letzte asoziale Gesindel.» Sie zeigte auf ihren Vorgarten. «Ich will den Mund nicht zu voll nehmen, mit dem ganzen Trödel, den Possum vors Haus stellt, aber wenigstens gehen meine Kinder in sauberen Klamotten in die Schule.»
«Wer sind die Kendalls?»
«Die Leute vom Obststand draußen vor der Stadt», sagte sie. «Fieses Pack, jeder Einzelne von ihnen.» Sie setzte nach: «Versteh mich nicht falsch, ich hab nichts gegen arme Leute – ich und Possum bestimmt nicht. Aber arm sein heißt noch lange nicht, dass du deine Kinder mit schmutzigen Gesichtern und schwarzen Fingernägeln losgehen lässt. Wenn die in den Laden kommen, muss man sich die Nase zuhalten, so ungewaschen sind sie.» Nell schwieg und schüttelte fassungslos den Kopf. «Vor ein paar Jahren ist einer von ihnen mit Läusen in die Schule gekommen. Es hat die ganze neunte Klasse erwischt.»
«Sagt denn keiner beim Jugendamt Bescheid?»
Nell schnaubte. «Hoss versucht seit Jahren, die ganze Familie aus der Stadt zu werfen. Der Alte war ein Schwein. Hat seine Frau geschlagen, die Kinder geschlagen, die Hunde geschlagen. Das einzig Gute, das er je zustande gebracht hat, war, dass er beim Mähen hinter der Sämerei tot umgefallen ist.» Sie schüttelte den Kopf. «Hat vorher seiner Frau noch einen Braten in die Röhre geschoben, und der Kleine ist der Schlimmste von allen. Gott sei Dank ist er nicht in Jareds Klasse. Jeden zweiten Tag fliegt er von der Schule, weil er sich prügelt, stiehlt oder sonst was. Vor einer Woche hat er ein Mädchen geschlagen. Das Balg ist genau wie sein Vater.»
Sara sagte: «Klingt grauenhaft», doch trotz allem tat ihrdas Kind Leid.
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