Schattenblume
eine runzlige Oberfläche gegeben. Der Rasen war vernachlässigt und braun, und der dürre Baum im Vorgarten sah aus, als würde er jeden Moment umfallen.
Die Eingangstür stand sperrangelweit auf, und die Fliegentür war nicht abgeschlossen. Trotzdem klopfte Sara und rief: «Jeffrey?»
Als sie keine Antwort bekam, trat sie ein. Im gleichen Moment hörte sie die Hintertür ins Schloss fallen.
«Jeffrey?», rief sie noch einmal.
«Sara?» Er kam gerade ins Wohnzimmer. In einer Hand hielt er einen Schweißbrenner, in der anderen einen Schraubenschlüssel.
«Nell hat mir gesagt, dass du hier bist.»
«Ja», sagte er, ohne ihr in die Augen zu sehen. Er hielt den Schweißbrenner hoch. «Das Abflussrohr in der Küche ist kaputt, schon seit Jahren. Seitdem spült sie das Geschirr im Bad.» Als sie nicht antwortete, winkte er sie in die Küche. «Ich mache das hier fertig, dann gehe ich zum Gefängnis und sehe nach Robert. Seine Geschichte von gestern kaufe ich ihm einfach nicht ab. Ich weiß, dass er mir was verschweigt.»
«Man hört ja so einiges», murmelte Sara.
«Was?»
Sie zuckte die Schultern und sah sich die Unordnung auf dem Küchenboden an. Er hatte den ganzen Siphon auseinander genommen. Sie fragte: «Hast du das Wasser abgestellt?»
«Deswegen war ich gerade draußen», sagte er und setzte sich auf den Boden. Er nahm ein Stück Sandpapier und schmirgelte mit der Übergenauigkeit eines Laien an einem Kupferrohr herum.
Sara setzte sich ihm gegenüber und versuchte, nicht an seiner Arbeit herumzukritteln. Ihr Vater hätte Jeffrey für ein Mädchen gehalten.
Stolz erklärte Jeffrey: «Ich habe alles ausgetauscht.»
«Hm», murmelte sie. «Brauchst du Hilfe?»
Seinem pikierten Blick entnahm sie, dass das hier, wie Autofahren, Männersache war. Ihr Vater hatte Sara und Tessa den sicheren Umgang mit Propan- und Azetylengasbrennern beigebracht, bevor sie die Worte aussprechen konnten.
Doch sie schwieg. Stattdessen sagte sie: «Ich habe dir gestern nicht gesagt –»
«Ach das», unterbrach er sie. «Tut mir wirklich Leid. Ich schwöre dir, ich trinke sonst nie so viel.»
«Das habe ich auch nicht gedacht.»
«Und das andere …» Er brach ab. Sara griff nach der Dose Lötwasser, um etwas in den Fingern zu haben.
«Keine Angst, ich werde es nicht gegen dich verwenden.»
«Was meinst du?»
Sie zuckte die Achseln. «Was du gesagt hast.»
«Was habe ich denn gesagt?», fragte er irritiert.
«Nichts», sagte sie und versuchte, die Dose zu öffnen.
«Ich meinte, was wir getan haben», sagte er, dann berichtigte er sich. «Ich meine, was
ich
getan habe.»
«Schon gut.»
«Nein, ist es nicht.» Er nahm ihr das Lötwasser aus der Hand und machte es für sie auf. «Ich …» Er suchte nach Worten. «Normalerweise bin ich nicht so egoistisch.»
«Vergiss es», sagte sie, doch irgendwie tröstete sie seine tölpelhafte Entschuldigung. Sie tauchte den Pinsel in das Lötwasser und bestrich damit das Knie, das Jeffrey abgeschmirgelthatte. «Ich muss mit dir über das Skelett sprechen.»
Plötzlich änderte sich seine Miene. Sie konnte förmlich zusehen, wie er eine Schutzmauer aufbaute. «Was ist damit?»
«Es ist eine Frau. Eine junge Frau.»
Er sah sie an. «Bist du dir sicher?»
«Der Schädel weist darauf hin. Männer haben größere Schädel.» Sie nahm den Zollstock und maß die Distanz vom Waschbecken zu dem abgesägten Rohr im Boden. «Außerdem sind männliche Schädel schwerer und haben meistens stark ausgeprägte Augenbrauenbogen.» Sie maß die Länge des Rohrs ab und spannte es an der richtigen Stelle in den Rohrabschneider. «Männer haben längere Eckzähne und breitere Wirbel», fuhr sie fort und drehte das Schneidrädchen, bis das Rohr durch war. «Dann das Becken. Frauen haben breitere Becken, um zu gebären.» Sie schmirgelte das Ende des Rohrs ab. «Und dann gibt es noch den Schambeinwinkel. Der ist bei Männern unter neunzig Grad, bei Frauen liegt er darüber.»
Er strich Lötwasser auf das Rohr, während sich Sara die Schutzbrille aufsetzte. Ohne die Miene zu verziehen, schob er das Knie auf das Rohr und wartete, dass Sara den Brenner mit einem Streichholz anzündete. Dann fragte er: «Woher weißt du, dass sie noch jung war?»
Sara stellte die Flamme ein, dann hielt sie den Brenner an das Rohr und erhitzte es, bis das Lötwasser Blasen schlug. «Das Becken. Die Schambeine treffen sich vorne. Bei jungen Menschen ist die Oberfläche der Knochen noch uneben. Alte Leute
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