Schattenblume
Sie fragte sich oft, ob aus solchen Kindern noch etwas werden konnte, wenn sie zu besseren Eltern kamen. Sie glaubte nicht an die Theorie von der schlechten Veranlagung, auch wenn wahrscheinlich jeder hier mit Nell der Meinung war, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt.
Nell wechselte das Thema. «Ihr seid gestern Abend ziemlich spät heimgekommen.»
«Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.»
«Ach was. Ich war wegen Possum sowieso wach», sagte sie. «Der Dummkopf hat sich das Kinn an der Ladentheke angehauen. Frag mich nicht wie, jedenfalls hatte er die ganze Nacht Zahnschmerzen. Er hat sich rumgewälzt, dass ich ihn am liebsten erwürgt hätte.»
Auf der Straße fuhr ein Auto vorbei. Drinnen saßen eine Frau und ein kleiner Junge. Sie hatte einen Zettel in der Hand, als versuchte sie, eine Wegbeschreibung zu lesen.
Sara sagte: «Jeffrey hatte ein bisschen zu viel getrunken.»
Nell war sichtlich erstaunt. «Ich hab ihn noch nie trinken sehen.»
«Ich glaube nicht, dass er es öfter tut.»
Nell sah sie forschend an. «War es wegen Julia?»
«Wer ist Julia?»
Nell sah hinaus auf die Straße, der Wagen, der eben vorbeigefahren war, kam jetzt zurück und stellte sich in die Auffahrt.
«Wer ist Julia?», wiederholte Sara. «Nell?»
Nell stand auf. «Darüber musst du mit Jeffrey reden.»
«Worüber?»
Nell winkte die Frau herbei, die aus dem Wagen stieg. «Sie haben es gefunden.»
Die Frau lächelte, als ihr Sohn zu den Hunden rannte und sie in die Arme schloss. «Sie sehen genau aus wie auf den Fotos.»
«Der hier ist Henry», sagte Nell, «und das ist Lucinda. Aber ehrlich gesagt hört sie nur auf Lucy.» Sie drückte dem Jungen die Leinen in die Hand, der sie glücklich entgegennahm.
Die Frau wollte protestieren, doch Nell holte ein Geldbündel heraus. «Hier, das sollte für den Tierarzt reichen. Mein Mann und ich haben es nicht geschafft, sie kastrieren zu lassen.»
«Vielen Dank», sagte die Frau, der das Geld offensichtlich bei ihrer Entscheidung half. «Was fressen sie am liebsten?»
«Alles», sagte Nell. «Sie lieben Futter, und sie lieben Kinder.»
«Sie sind toll!», rief der Junge mit dem Enthusiasmus, mit dem Kinder ihre Eltern überzeugen wollen, dass sie einmal Astronaut oder Präsident werden, solange sie nur jetzt diesen einen Wunsch erfüllt bekommen.
«So.» Nell blickte Sara an und dann wieder die Frau. «Ich muss los. Kisten packen. Der Möbelwagen kommt um zwei.»
Die Frau lächelte. «Wie traurig für Sie, dass Sie die Hunde nicht mit in die Stadt nehmen können.»
«Der Vermieter hat’s verboten», erklärte Nell und streckte ihr die Hand entgegen. «Danke, dass Sie sie aufnehmen.»
«Ich danke Ihnen», sagte die Frau und schüttelte Nell die Hand. Dann schüttelte sie auch Sara die Hand und sagte zu dem Kind: «Schätzchen, sag danke.»
Der Junge nuschelte ein «Danke», doch er hatte nur noch Augen für die Hunde. Sara sah ihnen nach, als dievier zum Auto zurückgingen. Der Junge musste rennen, um mit den ungestümen Tieren mitzuhalten.
Sara wartete, bis die Frau im Wagen saß, doch bevor sie etwas sagen konnte, hob Nell die Hand. «Hab eine Anzeige in die Zeitung gesetzt», sagte sie. «Ich konnte die Hunde da drüben doch nicht verrecken lassen, wenn es Leute gibt, die sich um sie kümmern.»
«Was sagst du dem Nachbarn, wenn er heimkommt?»
«Schätze, sie haben sich losgerissen.» Nell zuckte die Achseln. «Ich sollte mal nach Jared sehen.»
«Nell –»
«Stell mir keine Fragen, Sara. Ich weiß, ich rede zu viel, aber es gibt ein paar Dinge, die muss Jeffrey dir selbst sagen.»
«Es scheint ihm nicht viel dran zu liegen, mir bestimmte Dinge zu erzählen.»
«Er ist bei seiner Mutter», sagte Nell. «Keine Angst, sie ist den ganzen Tag nicht zu Hause. Dienstags isst sie immer im Krankenhaus zu Mittag.»
«Nell –»
Doch Nell hob die Hand und ging davon.
Als Sara zweimal die Straße auf und ab gelaufen war, fiel ihr ein, dass sie einfach die Namen auf den Briefkästen lesen könnte, statt zu versuchen, sich zu erinnern, wie Jeffreys Elternhaus aussah. Sie entdeckte den Namen «Tolliver» schließlich fünf Häuser von Nells und Possums Haus entfernt. Sie hoffte nur, dass keiner sie beobachtete, wie sie hier herumirrte. Besonders dämlich kam sie sich vor, als sie vor dem Haus Roberts Truck entdeckte.
Jetzt, bei Tageslicht, sah Sara erst, wie heruntergekommen das Haus wirklich war. Mehrere Farbschichten hattender Fassade über die Jahre
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