Schattenblume
Härte in ihren Augen. Ihre Haut schimmerte nicht mehr wie früher, doch Lena gab die Hoffnung nicht auf, wieder zu ihrem alten Selbst zu finden. Sie ging jeden Tag joggen, und fast jeden Abend verbrachte sie mit Ethan im Fitness-Studio und stemmte Gewichte.
Die Warteschleife machte sich piepend bemerkbar, und Lena knirschte mit den Zähnen. Sie wünschte, sie hätte Ethan nichts von der verspäteten Periode gesagt. Sie hatte ihre Tage ohnehin nie regelmäßig bekommen, aber so spät wie diesmal war sie noch nie dran gewesen. Vielleicht machte sie zu viel Sport – dabei musste sie doch fit sein für die Arbeit. In den vergangenen sechs Wochen hatte sie trainiert wie für einen Marathon. Und Ethan hatte Recht mit dem Stress. Sie stand tatsächlich unter enormem Druck in letzter Zeit. Um genau zu sein, seit zwei Jahren.
Lena legte eine Hand vor die Augen. Sie würde jetzt nicht darüber nachdenken. Letztes Jahr hatte ihr eine ziemlich gute Therapeutin gesagt, dass Verdrängen manchmal etwas Gutes war. Heute war eindeutig ein Tag für die Scarlett-O’Hara-Nummer. Sie würde morgen darüber nachdenken. Scheiße, vielleicht auch erst nächste Woche.
Sie unterbrach Hank mit seiner Geschichte, bei der er ein paar Details ausließ, wie zum Beispiel die Tatsache, dass er drogensüchtig und Alkoholiker gewesen war, als das Jugendamt ihm Sibyl und Lena auf den Schoss gesetzt hatte – und das war noch der schönere Teil der Geschichte. «Wie ist es am Wochenende gelaufen?»
«Besser als gedacht», sagte Hank zufrieden. Am letzten Wochenende hatte er seine heruntergekommene Bar am Rande des miesen Städtchens, in dem Lena aufgewachsen war, als Karaoke-Bar neu aufgezogen. Angesichts vonHanks Stammkundschaft war das ein echtes Wagnis, doch Hanks Erfolg bestätigte Lenas Theorie, dass besoffene Hinterwäldler zu allem fähig waren, sobald das Licht schwummerig wurde.
«Schätzchen», Hank schlug einen ernsten Ton an. «Ich weiß, dass heute ein großer Tag für dich ist …»
«Keine große Sache», unterbrach sie ihn. «Wirklich.»
«Vor mir musst du nicht die Starke markieren», brauste er auf. Manchmal war er ihr so ähnlich, dass es Lena kalt den Rücken hinunterlief. «Ich wollte nur wissen, ob du irgendwas brauchst –»
«Alles bestens.» Sie wollte dieses Gespräch nicht schon wieder führen.
«Lass mich wenigstens ausreden, verdammt nochmal», knurrte er. «Ich wollte dir nur sagen, wenn du irgendwas brauchst, ich bin für dich da. Nicht nur Geld und so. Ich bin da für dich.»
«Mir geht es gut», wiederholte sie. Eher würde die Hölle zufrieren, als dass Lena Hank um irgendetwas bat.
Das Telefon piepte, doch Lena ignorierte es tapfer. Sie ging in die Küche und hätte sich auf dem Absatz umgedreht, wenn Nan sie nicht am Arm gepackt hätte.
«Alles Gute zum Geburtstag!», rief sie und klatschte überschwänglich in die Hände. Sie nahm ein Streichholz, und Lena sah zu, wie sie die einzelne Kerze auf einem Napfkuchen mit weißem Zuckerguss anzündete. Auf der Arbeitsplatte stand noch ein ähnlicher Kuchen mit einer Kerze, den Nan jedoch nicht beachtete.
«
Happy birthday to you
», stimmte sie an.
Lena sagte zu Hank: «Ich muss aufhören.»
In dem Moment, als sie auflegte, klingelte das Telefon auch schon wieder. Lena drückte fast gleichzeitig auf Annehmenund Auflegen, gerade als Nan fertig gesungen hatte.
«Danke.» Lena blies die Kerze aus. Sie hoffte nur, Nan erwartete nicht, dass sie jetzt ein Stück Kuchen aß. Sie hatte das Gefühl, ihr lag ein Backstein im Magen.
«Hast du dir was gewünscht?»
«Ja», sagte Lena, doch was, sagte sie besser nicht laut.
«Ich weiß, dass du zu aufgeregt zum Essen bist.» Nan schälte den Napfkuchen aus seinem Papier. Lächelnd schnitt sie sich ein Stück ab. Manchmal war Nans Intuition richtig unheimlich; als wären sie ein altes Ehepaar. Nan fragte: «Kann ich irgendwas für dich tun?»
«Nein, danke», sagte Lena und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Die Kaffeemaschine war eins von Lenas wenigen Besitztümern in den gemeinsamen Räumen des Häuschens. Meistens blieb sie in ihrem Zimmer, las oder sah fern auf dem kleinen Schwarzweißgerät, das sie bei der Kontoeröffnung von der Bank geschenkt bekommen hatte.
Lena war aus schierer Not bei Nan eingezogen, und wie sehr sich Nan auch bemühte, es ihr gemütlich zu machen, Lena fühlte sich fehl am Platz. Nan war die perfekte Mitbewohnerin, wenn man Perfektion ertrug, doch Lena war an einem Punkt
Weitere Kostenlose Bücher