Schattenblume
wenig überraschend waren, da war noch etwas anderes in diesem Zimmer, eine Art Essenz. Es roch nicht nach Zigarettenrauch und Bourbon. Das hier roch nach Schweiß und Testosteron.
Jeffrey legte ihren Koffer auf den Boden und öffnete den Reißverschluss für sie. «Ich weiß, du bist anderes gewohnt», sagte er. Er wirkte immer noch verlegen. Sie versuchteseinen Blick aufzufangen, doch er war mit seiner Reisetasche beschäftigt. Sie sah an seiner Haltung, dass er sich für sein Elternhaus schämte. Dafür, dass er hier aufgewachsen war. Jetzt betrachtete Sara das Zimmer in einem anderen Licht. Ihr fiel auf, wie ordentlich es war. Die Poster hingen in genau gleichem Abstand voneinander an den Wänden, als hätte er beim Aufhängen ein Lineal benutzt. Auch seine Wohnung in Grant County spiegelte seine Ordnungsliebe wider. Sara war erst ein paar Mal dort gewesen, doch nach dem, was sie gesehen hatte, schien er sehr akkurat zu sein.
«Es ist schön», versicherte sie.
«Na ja», sagte er, wenig überzeugt. Er hatte seine Zahnbürste gefunden. «Bin gleich wieder da.»
Sara sah ihm nach, als er hinausging und die Tür hinter sich zuzog. Hastig zog sie sich aus und schlüpfte in den Pyjama, ohne den Blick von der Tür zu nehmen, für den Fall, dass seine Mutter hereinkäme. Nell hatte sich nicht gerade nett über May Tolliver geäußert, und Sara wollte der Frau nicht mit heruntergelassenen Hosen begegnen.
Sie kniete sich vor ihren Koffer. Die Haarbürste fand sie eingewickelt in ihren Shorts, und sie schaffte es, ihre Haarspange herauszunehmen, ohne sich allzu viele ihrer widerspenstigen Locken auszureißen. Während sie sich das Haar bürstete, sah sie sich im Zimmer um, betrachtete die Poster und die Gegenstände, die Jeffrey in seiner Kindheit gesammelt hatte. Auf der Fensterbank lagen verschiedene ausgeblichene Knochen, die einmal zu einem kleinen Tier gehört hatten. Auf dem Nachttisch, der selbst gebaut aussah, standen eine kleine Lampe und eine grüne Schale voller Kleingeld. Leichtathletik-Urkunden hingen an einer Pinnwand und ein alter Milchkarton barg sauber beschrifteteKassetten. An der gegenüberliegenden Wand stand ein behelfsmäßiges Regal aus Brettern und Backsteinen, voll gestopft mit Büchern. Sara erwartete Comics und ein paar Detektivromane, doch stattdessen fand sie dicke Bände mit Titeln wie
Strategische Gefechte im amerikanischen Bürgerkrieg
und
Die sozialpolitischen Auswirkungen des Wiederaufbaus im ländlichen Süden
.
Sie legte die Bürste weg und nahm das Buch mit dem am wenigsten einschüchternden Titel in die Hand. Auf der ersten Seite fand sie Jeffreys Namen, dazu das Jahr und die Kursbezeichnung. Beim Durchblättern sah sie seine zahlreichen Randbemerkungen und Unterstreichungen. Betreten stellte Sara fest, dass ihr Jeffreys Handschrift vollkommen fremd war. Sie hatte ihn nie eine Nachricht oder auch nur eine Einkaufsliste schreiben sehen. Im Gegensatz zu ihren eigenen krakeligen Druckbuchstaben hatte er eine schöne, fließende Schreibschrift, wie sie heute in den Schule gar nicht mehr gelehrt wurde. Seine
W
s waren tadellos gerundet und fügten sich sauber an die anschließenden Vokale an. Die Schleifen seiner
Gs
hatten alle exakt die gleiche Form, als hätte er sie mit der Schablone gemalt. Sogar ohne Grundlinie schrieb er vollkommen gerade, nicht schräg über das Blatt wie die meisten Menschen.
Sie fuhr mit dem Finger seine Anmerkungen nach und spürte die Vertiefungen, die der Bleistift auf der Seite hinterlassen hatte. Die Worte waren wie geprägt, als hätte er zu fest aufgedrückt.
«Was machst du da?»
Sara fühlte sich ertappt, als hätte sie in seinem Tagebuch gestöbert, nicht in einem alten Lehrbuch. «Der Bürgerkrieg?»
Er kniete sich neben sie und nahm ihr das Buch ab. «Ich hatte Geschichte im Hauptfach.»
«Du steckst voller Überraschungen, Slick.»
Er zuckte zusammen, dann stellte er das Buch wieder zu den anderen ins Regal und brachte die Buchrücken wieder auf eine Linie. Ein Streifen im Staub zeigte die exakte Stelle an. Jetzt zog er einen dünnen, in Leder gebundenen Band heraus, auf den in goldenen Buchstaben schlicht das Wort
Briefe
geprägt war.
«Die hier haben die Soldaten an ihre Liebsten zu Hause geschrieben», sagte Jeffrey und blätterte durch das zerlesene Buch, bis er die Seite fand, die er suchte. Er räusperte sich und las: «Mein Liebling. Die Nacht bricht herein und ich liege wach und denke darüber nach, was für ein Mensch ich
Weitere Kostenlose Bücher