Schattenblume
allein.
Sara richtete sich auf und stieß sich die Zehen an ihrem Koffer. Jeffrey hatte ihn vor ein paar Stunden hereingebracht, doch sie hatte so getan, als schliefe sie. Er war hereingeschlichen wie ein Dieb, und als sie ihm nachsah, fragte sie sich, worauf sie sich da eingelassen hatte. Jeffrey Tolliver war nicht der Mann, für den sie ihn gehalten hatte. Nicht mal Cathy Linton hätte ihm das Verhalten von gestern Nacht zugetraut. Sara hatte sich bedroht gefühlt, einen Moment hatte sie sogar Angst gehabt, er würde sie schlagen. Auf so einen Menschen konnte sie sich nicht einlassen. Sie konnte zwar nicht abstreiten, dass sie gewisse Gefühle für ihn hegte, doch das hieß nicht, dass sie sich in eine Lage bringen würde, in der ihr auf irgendeine Weise Gefahr drohte.
Sara presste die Lippen zusammen und betrachtete die gerahmte Titelseite an der Wand, auf der Jeffrey zu sehen war. Vielleicht war er nur so sonderbar, weil er wieder in seiner alten Heimat war. Der Mann von gestern Abend hatte nichts mit dem Jeffrey Tolliver gemein, den sie in den letzten Monaten kennen gelernt hatte.
Sie merkte, dass sie versuchte, Entschuldigungen für sein Verhalten zu finden. Bisher hatte er nie das geringsteAnzeichen erkennen lassen, dass er zu einem Ausbruch wie dem von gestern Nacht fähig war. Er war verzweifelt gewesen. Er hatte die Wand geschlagen, nicht sie. Vielleicht reagierte sie übertrieben. Die Geschichte zerrte an seinen Nerven, und sie hatte alles nur verschlimmert. Er hatte sie zwar am Arm gepackt, aber er hatte sie auch wieder losgelassen. Er hatte sie gewarnt, nicht zu reden, aber gehindert hatte er sie daran nicht, als der Sheriff kam. Bei Tageslicht konnte Sara seine Wut und seinen Frust sogar verstehen. Und Jeffrey hatte natürlich Recht: In Alabama gab es die Todesstrafe, und nicht nur das, hier wurde sie auch ähnlich gern vollstreckt wie in Texas und in Florida. Falls Robert schuldig gesprochen wurde, musste er mit dem elektrischen Stuhl rechnen.
Obwohl sie von der schlaflosen Nacht wie gerädert war, versuchte sie noch einmal durchzugehen, was sie gestern Abend in Roberts Schlafzimmer gesehen hatte. Sie erinnerte sich nicht mehr genau, was sie auf der Straße gehört hatte, und sie war auch nicht mehr ganz sicher wegen der Schmauchspur an Roberts Wunde. Aber sie musste sich doch fragen, warum Robert sich so viel Mühe gab, die Eintrittswunde zu kaschieren, wenn er nichts zu verbergen hatte.
Wenn sie Recht hatte, dann war der Lauf der Pistole, mit der Robert angeschossen worden war, aufgesetzt worden, und zwar in einem Winkel von unten nach oben. Die Mündung hatte eine V-förmige Verbrennung auf der Haut hinterlassen. Entweder kniete oder saß die Person, die geschossen hatte, unter ihm, oder Robert hatte die Waffe selbst auf sich gerichtet und den Abzug gedrückt. Die zweite Theorie würde auch erklären, warum die Verletzung so harmlos ausgefallen war. Im Unterleib gab es siebenlebenswichtige Organe und ungefähr zehn Meter Darm. Die Kugel war an alldem glatt vorbeigegangen.
Sara wollte den Sheriff gestern Nacht über ihren Verdacht informieren, doch ein Blick hatte genügt und sie wusste, dass Hollister, wie Jeffrey, auf jeden Fall hinter Robert stand, solange es Zweifel an seiner Schuld gab. Clayton «Hoss» Hollister war ein Südstaatler der alten Schule, vom Spitznamen bis zu den Cowboystiefeln. Sara wusste, wie das System hier funktionierte. Ihr Vater gehörte zwar nicht zum Kern der Clique, die in Grant County das Sagen hatte – er hasste Verpflichtungen –, doch er spielte mit den meisten von ihnen Karten. Schon in ihrer ersten Woche als Gerichtsmedizinerin hatte Sara die Gepflogenheiten kennen gelernt, als der Bürgermeister ihr erklärte, dass das County einen Exklusivvertrag mit der Firma seines Schwagers hatte und der gesamte medizinische Bedarf ausschließlich dort bestellt wurde, egal zu welchem Preis.
Sara wollte sich Roberts Wunde heute noch einmal ansehen, und auch wenn Jeffrey sein Versprechen, sie die Obduktion durchführen zu lassen, nicht hielt – oder halten konnte –, wollte sie zumindest dabei sein, wenn die Leiche des Einbrechers untersucht wurde – oder des Opfers, je nach Betrachtungsweise. Danach wollte Sara nur noch eins – so schnell wie möglich aus Sylacauga verschwinden. Allein. Sie musste Abstand gewinnen, um sich zu sammeln und in Ruhe darüber nachzudenken, wie sie nach dem Ausbruch von gestern Nacht zu Jeffrey stand.
Vorsichtig stand Sara auf. Ihr
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