Schattenbruch
keine glückliche Figur abgegeben habt.«
Aelarian nagte an seiner Lippe. »Cornbrunn - ich bin nicht in der Stimmung für Wortgefechte. Ich bitte dich … bitte …« Er klang erschöpft.
Cornbrunn verstand. Er legte den Arm um Aelarian und zog ihn zu sich heran. Der Großmerkant bettete den Kopf auf seine Schulter, ergriff Cornbrunns Hand und drückte sie fest. Cornbrunn küßte seine Schläfe. Dann blickten beide auf das Meer, und sie schwiegen, während die Wellen gegen die sandige Küste schlugen. Der Stein, auf dem sie saßen, war ein riesiger, zerklüfteter Findling, der einzige Felsbrocken am Strand. Ansonsten gab es hier nichts als grobkörnigen Sand, der an wenigen Stellen von Stranddisteln durchbrochen war. Hinter dem Findling stieg das Land rasch an, warf sich zu buckligen Höhen auf. Auf diesen wuchs mannshohes Gras; die Halme wogten im Wind.
Obwohl die zwei Troublinier bereits vor vier Tagen auf der Insel gestrandet waren, hatten sie die Anhöhe bisher nicht erklommen. Aelarian war zu geschwächt gewesen, er hatte die beiden Tage im Schutz des Findlings gelegen und sich die Seele aus dem Leib gehustet - das Salzwasser war ihm nicht gut bekommen. Cornbrunn hatte ihn versorgt; es wurden genug Muscheln, Krabben und Süßquallen angespült, und in einer Spalte des Findlings hatte sich Regenwasser gesammelt. Auch ihre Kleider waren inzwischen wieder trocken. Deshalb wollte Cornbrunn dem Ort so bald wie möglich den Rücken kehren, denn er fürchtete einen Wetterumschwung. »Wir sollten die Insel erkunden, Aelarian. Es muß ein paar Dörfer geben, in denen man uns Unterschlupf gewährt. Und da Ihr endlich wieder bei Kräften seid …«
Aelarian löste sich aus seiner Umarmung. »Ich weiß, es ist töricht, hier am Strand auszuharren. Insgeheim hoffte ich wohl, daß Parzer der Flotte doch entwischt sei und nach uns suche.«
»Unmöglich. Die Gyraner hatten das Schiff eingekreist; gewiß war Parzer am Ende vernünftig und hat sich ergeben. Ich sah die gyranischen Segel am südlichen Horizont verschwinden.«
»Hm … dort liegt Vodtiva, das entlegenste Fürstentum Sithars, und eines der reichsten. Gut möglich, daß Tarnac von Gyr dieses Eiland als Beute ausgewählt hat. Die kaiserliche Flotte kann Vodtiva nicht beschützen, und so muß Tarnac lediglich die Woge der Trauer bezwingen, was ihm dank seiner Beziehungen zur Solcata-Loge leicht fallen dürfte.«
»Wir werden es nie erfahren. Unsere Freunde aus Rhagis wurden auf alle Fälle verschleppt, ebenso Rumos und die Leibwächterin.«
»Falls Rumos noch lebt, werden die Gyraner ihn kaum festhalten können. Er wird einen Weg finden, seine Reise nach Tyran fortzusetzen. Ich muß ihm zuvorkommen, Cornbrunn!« Aelarian erhob sich. »Dann nichts wie los. Tula ist groß und dünn besiedelt; es könnte ein langer Fußmarsch werden, bis wir auf Menschen treffen.« Sie beschlossen, zunächst die Anhöhe zu erklimmen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Der Aufstieg war mühsam, denn das Gras erwies sich als widerspenstig, ließ sich kaum zur Seite biegen. Nur die Kieselfresser hatten ihren Spaß; sie huschten zwischen den Halmen hin und her und erklommen wagemutig die höchsten Stengel.
»Was wißt Ihr über Tula, Großmerkant? Angeblich war die Insel lange umkämpft.«
»Tula hat viele Herren gesehen - und dies, obwohl hier keine Bodenschätze zu finden sind und nur minderwertiges Getreide gedeiht. Doch die Lage der Insel ist günstig; sie ist die Pforte zum Silbermeer, sitzt wie ein Keil zwischen Tyran, Vodtiva und Gyrs Südspitze. In ihrer Nähe fließen die Ströme von vier Quellen zusammen; der Leuchtturm ist die bedeutendste, doch auch die Woge der Trauer, der Spiegel des Himmels und die geheimnisvolle Quelle von Tyran gelten als machtvoll. Schon vor dem Südkrieg stritt Gyr mit Candacar um diesen Vorposten, und daß die Insel später dem Südbund zufiel, konnten die Gyraner nie verschmerzen. Als Sithar nach dem Umsturzversuch der Bathaquar in eine Krise geriet, holte Gyr sich die Insel zurück und setzte sich vierzig Jahre lang auf ihr fest. Erst unter Kaiser Hamir wurde Tula zurückerobert.«
»Jetzt schlägt das Pendel erneut um«, sagte Cornbrunn. »Sithar zerbricht, Gyr sendet seine Flotte aus, und die Gol-dei lauern mit ihren Schiffen in der Nähe. Ich hoffe, wir geraten nicht zwischen die Fronten.« Je höher sie stiegen, desto durchlässiger wurde das Halmenmeer. Die Gräser wichen Sträuchern und Baumgruppen, und das Erdreich wurde dunkler.
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