Schattenbruch
Sie trug es offen; jeder Versuch, es zu einem Zopf zu binden, scheiterte an dem stechenden Jucken ihrer Haarwurzeln. Vorsichtig strich sie es zurück - und bemerkte Mhadag, der an ihre Seite getreten war. Gemeinsam beobachteten sie, wie die Südsegler eine schwere Kiste über den Laufsteg zur Barke hinübertrugen. Auf der Kiste war das Symbol der varonischen Waffenschmiede zu erkennen - ein Hammer und ein Schwert.
»Es sind Schwerter«, stellte Jundala fest. »Ihr habt sie in Vara gekauft, hinter dem Rücken des Thonrats, obwohl seit Beginn des Feldzugs alle geschmiedeten Waffen dem Heer übergeben werden sollen.«
»Wir müssen gewappnet sein«, antwortete Mhadag. »Viele Jahrhunderte lang haben sich die Südsegler auf das Zeitalter der Wandlung vorbereitet. Auf der Barke befindet sich alles, was wir für die Überfahrt benötigen.« »Aber wohin wollt ihr denn? Euer Kontinent ist nirgends zu sehen. Er ist nur ein Traum, Mhadag!« Der Knabe nahm ihre Hand. Dann führte er sie zu der Planke, die das Schiff mit der Barke verband. Zwei Südsegler standen dort und wisperten miteinander. Ihre Augen waren verbunden, die Gesichter eingefallen und grau. Sie wandten sich der Fürstin zu, als sie ihre Schritte vernahmen.
»Zeigt ihr die Karte«, bat Mhadag. »Sie soll wissen, daß unsere Suche nicht umsonst ist.«
»Die Suche …«, flüsterten die Südsegler aufgeregt. Sie tasteten nach Jundala, und sie wich erschrocken zurück. »Sie zweifelt und leugnet die Zeichen der Wandlung, verschließt ihre Augen den Wundern der Welt, die kommt und die war und die ewig bestehen wird, und sieht nicht das Licht, das den Pfad uns erhellt.« Jundala wagte nicht zu antworten.
Sie haben keinen Schatten und sprechen in Reimen … warum nur? Was hat sie in so unwirkliche Wesen verwandelt ?
Einer der Südsegler griff nach einer länglichen Holzröhre, die er wie einen Köcher auf dem Rücken festgeschnallt hatte. Auf dem Verschluß prangte das brennende Schiff des Ordens. Er öffnete die Kartusche und zog eine lederne Rolle hervor: es war eine alte Karte, ihre Ränder zerschlissen.
Sie entrollten die Karte und ließen Jundala einen Blick auf sie werfen. Mit dünnen, fast verblaßten Strichen waren die Umrisse von Gharax eingezeichnet; der große Kontinent, die Inseln des Nord- und Südmeers, die eisbedeckten Gebiete unter Suuls Hauchs. Die Karte schien recht genau zu sein, allein ihre Beschriftung war unleserlich - fremde Zeichen, kaum zu entziffern.
»Ein wertvolles Stück, zweifellos - aber was ist so außergewöhnlich an ihr?« Jundala starrte abwechselnd auf die Karte und auf die ausdruckslosen Gesichter der Südsegler. »Ich verstehe nicht …«
Hinter ihr hörte sie Mhadag aufseufzen. »Sie kann nicht sehen.«
»Nicht sehen«, echoten die Südsegler enttäuscht. »Die Karte von Yuthir, so lange verschollen, am Ufer des Nesfers vergraben im Sand, wir suchten und fanden das Wissen der Alten, und halten die Karte nun stolz in der Hand.«
»Aber sie zeigt doch nur unsere Welt«, preßte die Fürstin hervor. Ihre Augen tränten, und der hämmernde Kopfschmerz ließ sie taumeln. »Sie zeigt das, was wir kennen nicht, was ihr euch in eurem Wahn ersehnt.« Einer der Südsegler riß die Karte an sich. Der andere packte Jundala am Handgelenk. Sein Griff war eisern. »Ihr sollt es begreifen, ihr werdet es sehen; nun folgt uns zur Barke, die Stunde ist nah. Wir müssen die Brücken für immer zerstören und lassen zurück, was uns hinderlich war.«
Sie wehrte sich nur schwach, als die Südsegler sie über die Planke zu dem schwarzen Schiff hinüberschleiften. Kalt … so kalt … der Schmerz kaum zu ertragen, ihr ganzer Körper wurde immer kraftloser, je näher sie der Barke kam. Hände streckten sich ihr entgegen und zogen Jundala von der Planke herab. Nun befand sie sich selbst auf der Barke. Das Licht ringsum wandelte sich, wurde zäh, dunkler. Und wieder war ihr, als blickte sie durch Glas in die Welt … Sie befreite sich aus der Umklammerung und sah zum Schiff hinüber. Die letzten Südsegler hatten es verlassen, stiegen von der Planke auf die Barke herab. Auch der Knabe Mhadag war unter ihnen. Nun wurde die Planke zurückgezogen - und Jundala sah Rauch aufsteigen. Feuer! Ja, das Schiff der Südsegler brannte; aus der Luke des Unterdecks schlugen Flammen. Auch die anderen Schiffe brannten; das Feuer leckte an ihren Masten empor.
Verzweifelt beobachtete Jundala, wie die Südsegler alle Taue kappten und ihre brennenden Schiffe in der
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