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Schattenbruch

Schattenbruch

Titel: Schattenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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Schindeln auf der Dachspitze glommen im Sonnenlicht, als wäre das Metall geschmolzen und ranne an den Mauersteinen herab. Krähen umkreisten den Turm; sie nisteten in den Fluchten der Wendeltreppe, die durch die Fensterbogen zu erkennen war. In früheren Zeiten hatte einmal im Jahr - am Tag der Ernte - der Kurator von Vara den Turm erklommen, doch dieses Ritual war unter dem vorletzten Hohenpriester abgeschafft worden; der Aufstieg galt als gefährlich, denn die Treppe war marode. Über siebenhundert Jahre stand der Dom bereits, und die letzte Instandsetzung war in den Regierungsjahren Kaiser Akrins abgeschlossen worden. Vara wirkte friedlich an diesem Abend. Vom Turm aus betrachtet, glich die Stadt einem kunstvoll gewobenen Teppich; ihre Kanäle wie silberne Fäden, die Häuserreihen wie ein komplexes Muster. Im Abendrot traten ungeahnte Symmetrien zum Vorschein: die Ausrichtung der Straßen und die Verästelung der Kanäle offenbarten eine durchdachte Ordnung. Nun, da die Sonne dicht über dem Horizont stand und die Spitze des Doms ihre Strahlen reflektierte, woben die Lichtfäden ein neues Muster in die Luft, als wollten sie den Grundriß von Vara nachzeichnen: ein Gitter aus rötlichen Strahlen, so wie die Skizze einer zweiten Stadt, die nicht länger dem Erdboden verhaftet war.
    Die Nacht nahte, und mit ihr erwachte die Angst der Bewohner. Rund um den Dom hatten sich weitere Todesfälle zugetragen; vier Flammenhüter waren in den zwei vergangenen Nächten ermordet worden, und auch eine junge Frau, die sich zu später Stunde aus dem Haus ihrer Eltern geschlichen hatte, um ihren Liebsten zu treffen. Sie alle waren mit herausgetrennten Augen in der Gasse aufgefunden worden. Die Flammenhüter weigerten sich inzwischen, abseits der großen Straßen ihren Dienst zu verrichten; sie forderten von Kaiser und Stadtgarde, die Mörderbande dingfest zu machen. Doch der Kaiser hatte zu den Vorfällen geschwiegen und die Stadtgarde vergeblich nach den Tätern gesucht. Es gab keine Spur, keinen Hinweis, wer hinter den Greueltaten steckte. Vor dem Dom hatten sich viele Menschen versammelt; sie trugen Kerzen in den Händen, knieten auf den Stufen, murmelten Gebete. Das Volk war verängstigt durch die Mordserie und bestürzt über die Nachrichten aus Arphat. Das kaiserliche Heer war geschlagen worden, die Überlebenden flüchteten über den Nebelriß nach Palidon, und die Goldei rüsteten sich für die Eroberung Sithars. Wie lange würde es dauern, bis sie Vara erreichten? Wer konnte sie jetzt noch aufhalten? Schon flohen viele in den Süden, in die thokischen Steppen, obwohl dort die Versorgungslage katastrophal sein sollte.
    Die Zurückgebliebenen versammelten sich indessen vor dem Dom und riefen voller Verzweiflung Tathril um Beistand an. Die Kaisergarde bewachte den Zugang des Tempels; auch Krieger mit roten Helmen und Schilden standen vor dem silbernen Tor, Angehörige des troublinischen Gildenheeres, das der Kaiser nach Vara gerufen hatte. Vor zwei Tagen war es in die Stadt einmarschiert; Troublinien war der letzte Verbündete im Kampf gegen die Goldei. Dennoch murrten viele Bürger über die Ankunft der Gildenkrieger - war denn der Kaiser so schwach, daß er sich vom Heer des Nachbarlandes beschützen lassen mußte?
    Es waren Tage der Ungewißheit. Der Krieg gegen die Goldei war verloren, der Silberne Kreis zerfallen, der Kaiser allen Gerüchten zufolge von einem Dämon besessen, und im palidonischen Hochland schwelten die Feuer des Brennenden Berges. Längst hatten die Menschen allen Mut verloren, und so richtete sich ihre letzte Hoffnung auf Tathril. Sie warteten vor dem Tempel auf ein Zeichen, auf ein Wunder, während die Sonne am westlichen Horizont versank.
    Die Lichtspiegelungen auf der Domspitze erloschen, und Dunkelheit sank auf Vara herab wie ein schwerer Mantel.
    Der Trupp bestand aus zwanzig Männern; die Hälfte kaiserliche Gardisten, der Rest troublinische Gildenkrieger. Forsch marschierte er über den Gorjinischen Marktplatz. Die Bürger, die sich um diese Zeit noch auf dem Platz befanden, wichen dem Aufmarsch aus; sie ahnten, daß dies nichts Gutes zu bedeuten hatte. Am Ende des Platzes führte eine Treppe zu einem tempelähnlichen Gebäude empor - die Halle der Bittersüßen Stunden, das alte Dampfbad von Vara und nun Versammlungsort der Großbürger. Rote Lampen baumelten über dem Eingangsportal, und die Flügeltüren standen weit offen. Die Gardisten erstürmten die Treppe, ihr Anführer vorneweg. Ein

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