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Schattenbruch

Schattenbruch

Titel: Schattenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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durchdringt alles. Unsere Welt besteht aus ihren Strömen. Jeder Mensch kann sie erfassen, nicht nur ein Zauberer. Wir müssen bloß lernen, zu sehen. Probiert es, Baniter! Kostet die Frucht!«
    Eine Salbe aus zerriebenem Moos, um die Sphärenströme zu begreifen … hochinteressant!
Der Fürst schlug das Angebot dankend aus. »Man muß nicht alles sehen, Sardresh, und Eure Erkenntnisse erscheinen mir zweifelhaft. Immerhin wirkt sich die Salbe gut auf Eure Gesundheit aus. Ich habe mich schon gefragt, wie Ihr ein so hohes Alter erreichen konntet.«
    »Sie verlängert das Leben. Sie rettet uns hinüber in die neue Zeit.« Sardresh ließ das Döschen sinken. »Doch Ihr habt recht. Ihr benötigt die Frucht des Verlieses nicht. Euch ist es vergönnt, das Wunder auch ohne sie zu erfahren. Denn Ihr könnt die Schriften lesen.« Er setzte sich wieder in Bewegung. »Kommt! Kommt endlich!« Baniter folgte ihm mit gerunzelter Stirn. »Die Schriften lesen… immer wieder sprecht Ihr davon. Warum glaubt Ihr, daß ich dazu in der Lage bin?«
    »Weil Ihr ein Nachfahre der Gründer seid.« Sardresh rückte seinen Lederhut zurecht. »Die Familie Geneder! Ihr ist es vorherbestimmt, die Kräfte des Verlieses zu erwecken. Die Geister der Stadt haben es mir verraten. Deshalb brachte ich Euren Großvater hierher. Ich beschwor ihn, Vara zu verändern. Die Stadt neu zu erschaffen. Doch er ließ sich verführen. Er gab den Schlüssel aus der Hand. Und der Silberne Kreis hielt Norgon Geneder auf. Aus Neid. Aus Mißgunst. Es war ein großer Rückschlag für unseren Plan. Ich mußte mich nach Norgons Hinrichtung verbergen. Meine Verbindung zu ihm verleugnen. Und warten, Baniter! Warten, bis ein neuer Geneder in die Stadt gelangt. Bis der Tag der Verheißung eintritt. Bis das Schicksal alles zusammenfügt, wie die Geister es voraussagten.«
    »Geister«, spottete Baniter, doch sein Lachen klang nicht echt. »Ihr glaubt zu allem Überfluß auch noch an Geister?«
    »Niemand stirbt wirklich. Nicht hier in Vara. Vergangenes lebt in der Gegenwart fort. Das Verlies läßt die Toten nicht zur Ruhe kommen. Es bewahrt die Erinnerung.«
    Langsam schritten sie weiter. Baniter fror erbärmlich; ringsum schien es immer kälter zu werden. Der Gang öffnete sich schließlich einer runden Kammer. Es war eine Sackgasse. Moos bedeckte die Mauern und die Decke wie dichter Filz, schimmerte hell. Der Boden aber war uneben und schwarz; so dunkel, daß Baniter die Augen abwenden mußte. Er spürte ein Unbehagen, das ihn sofort an seine Befreiung durch die Staker erinnerte: an das Boot, das ihn durch die Mauer in das Verlies getragen hatte, an den dumpfen Klang, der ihn wie ein Glockenschlag betäubt hatte, als er seinen Kopf auf das Metall gelegt hatte …
    »Der Lehm des Verlieses«, wisperte Sardresh voller Ehrfurcht. »Der Baustoff der Welt. Wir sind am Ziel.« Widerstrebend betrat Baniter die Kammer. Sein Kopf dröhnte, und die Wunden am Bein und auf der Stirn begannen zu schmerzen. »Das wolltet Ihr mir zeigen? Eine moosbewachsene Grotte?« Er musterte den ›Schwärmer‹. »Ich kenne Euch inzwischen gut genug, Sardresh. Als ein Bewunderer der höheren Baukunst, der spektakulären Form und Gestaltung gebt Ihr Euch gewiß nicht mit einem Spaziergang durch triste Gänge zufrieden. Es muß etwas anderes an diesem Ort zu finden sein.«
    Sardreshs Augen leuchteten. »Ja, Baniter. Und ich werde es Euch zeigen. Es gibt viele Arten, zu sehen. Den Mantel der Täuschung fortzureißen.« Er deutete auf den Gang, aus dem sie gekommen waren. »Die Gänge sind unwichtig. Sie sind nur Adern der künftigen Stadt. Durch sie peitscht die Kraft. Die Magie. Doch der wahre Körper von Vara liegt hinter den Steinen. Hinter den Mauern.« Er schritt zur Wand, krallte sich in dem Moosbewuchs fest; schimmernde Sporen stoben zwischen den Fingern hindurch. »Die Macht der Möglichkeit. Der Entwurf der Zukunft. Versteht mich, Baniter: all die Baupläne, die ich in meinem Leben entsann, waren nur ein unbedeutendes Spiel mit der Möglichkeit. Zu entwerfen, zu erdenken, zu formen ist eine Gabe. Eine Kunst! Die Welt, in der wir leben, prägt uns mehr, als wir glauben. Und wenn wir unser Leben gestalten wollen, müssen wir zuerst die Stadt gestalten.« Er riß das Moos zur Seite; es schälte sich wie ein Teppich von dem Gestein. »Denkt nach, Baniter! Was war der Mensch einst? Ein Sklave der Quellen. Er irrte durch die Wildnis, nackt und allein. Er darbte. Er hungerte. Wenn er Früchte fand,

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