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Schattenbrut (German Edition)

Schattenbrut (German Edition)

Titel: Schattenbrut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Seider
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sitzen. Es war zwanzig Jahre her, und sie hatte sich verändert.
    Hatte sie das nicht wirklich?
    Sie sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten nach sieben. In der Siedlung verloren die Dächer in der sinkenden Sonne langsam ihre Konturen, und bald würde sich die Dunkelheit über das Wohngebiet legen. Clarissa war immer eine pünktliche Person gewesen. Billy stand auf und überprüfte das Telefon, das auf der Station lag. Die Batterie war geladen und das Display zeigte Bereitschaft. Von draußen hörte sie das Klappern eines haltenden Dieselmotors. Nicht Clarissas Mercedes. Sie wollte sich abwenden, doch mitten in der Bewegung hielt sie inne. Der Mann, der die Fahrertür von außen zuschlug, war ungewöhnlich groß. Ihr Herz machte einen Satz. Die dunklen, ordentlichen Haare. Oren. Sie näherte sich der Scheibe, bis ihr Atem einen feuchten Kreis auf dem Glas hinterließ. Er kam auf das Haus zu. Kurz darauf läutete es. Schnell rannte Billy in den Flur und drückte den Knopf für die Türöffnungsautomatik. Im Treppenhaus waren Schritte zu hören. Sie öffnete die Wohnungstür. Er kam hoch. Erschrocken schlug Billy mit der Hand auf ihren Mund. Sein Gesicht war blutverschmiert, Blut tropfte aus seiner Nase und hinterließ glänzende, klebrige Spuren auf seinem Mantel, und auch die Hände, die unter den schwarzen Ärmeln hervorlugten, waren voller Blut.
    »Oh mein Gott«, stieß sie hervor, ohne die Hand von ihrem Mund zu nehmen.
    »Ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, murmelte er, während seine Augen durch den Flur huschten. Billy griff nach seinem Arm, zog ihn in die Wohnung und schloss die Tür. Drinnen ergriff sie seine Schultern und betrachtete sein Gesicht.
    »Es ist nur die Nase«, sagte er und wich zurück. »Ich wollte das Blut abwischen und habe es verschmiert.«
    »Zieh dich aus und setze dich.« Sie zeigte auf die Küche. »Ich hole ein Tuch.« Dann rannte sie ins Bad, ließ kaltes Wasser auf einen Waschlappen fließen und lief zurück. Aus dem Gefrierfach holte sie zwei Eiswürfel, wickelte den weichen Frotteestoff herum und wollte ihn auf Orens Gesicht legen. Er nahm ihr den Lappen aus der Hand und drückte ihn auf seine Nase. »Danke«, murmelte er in das Tuch. Mit der freien Hand bedeutete er ihr, sich zu setzten, und sie ließ sich schwer auf den Stuhl neben ihm sinken. Fragen schossen in ihr hoch, doch sie schluckte sie herunter. Nicht noch einmal würde sie ihn überfordern, und so wartete sie, bis er zu reden anfing:
    »Ich wollte nicht kommen. Nicht auf diese Weise. Aber ich wusste nicht, wohin ich sonst gehen soll.«
    »Ich bin froh, dass du gekommen bist.«
    Er schwieg.
    »Möchtest du etwas trinken?«
    »Nein.« Er nahm den Lappen von seiner Nase, legte ihn auf den Tisch und zog eine vorsichtige Grimasse. »Danke.« Ein Räuspern.
    »Wer hat das getan?«, fragte sie. Sie konnte nicht anders.
    »Mein Mitbewohner. Nur ein kleiner Streit. Nichts Schlimmes. Aber ich musste raus aus dem Mist.«
    »Worum ging es bei eurem Streit?«
    Mit den Fingernägeln kratzte er auf der Tischplatte herum, als würde er einen hartnäckigen Fleck entfernen wollen. »Um nichts Bestimmtes. Er ist high, und manchmal wird er dann aggressiv.«
    Das Ticken der Wanduhr hallte unnatürlich laut von den Wänden wieder. »Wovon ist er denn high?«
    Er hob seinen Kopf und sah sie an. »Was sollen diese Fragen?«
    »Ich will dir nur helfen.«
    »Ich nehme keine Drogen«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken erraten. »Ich habe nur ein billiges Zimmer gesucht und bin in einer Wohngemeinschaft gelandet, die es mit gewissen Dingen nicht so genau nimmt.« Er klang, als sei er wütend, dass er sich rechtfertigen musste. »Das war ein Fehler. Aber ich wusste nicht, wo ich hin soll.«
    »Hat er dich schon öfter geschlagen?«
    »Nein. Ich gehe ihm aus dem Weg, soweit es möglich ist.«
    »Das ist doch kein Zustand.«
    Er winkte ab. »Ich bin nicht hier, um zu petzen. Ich wollte ohnehin kommen. Wenn nicht heute, dann bald.« Er stand auf, zog etwas aus seiner Hosentasche und setzte sich wieder. Es war ein Foto, das er in der Hand hielt, und er reichte es ihr herüber.
    Das Bild war mehrfach gefaltet worden und sah aus, als wäre es mindestens einmal nass geworden. Aber Billy erkannte das Baby darauf sofort. Schwarze Haare. Der mondförmige Storchenbiss auf dem Nasenflügel. Fassungslos sah sie von dem Bild zu Oren. »Woher hast du es?«
    Er lächelte, doch es war ein trauriges Lächeln. »Von meinen Eltern natürlich. Das Bild wurde am Tag

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