Schattenbrut (German Edition)
zurück, brach alle Kontakte ab, sprach mit niemandem. Clarissa schrieb mir ein paarmal und rief auch an, doch ich ignorierte sie. Ich war mit mir selbst beschäftigt. Erst nach der Geburt meines Kindes begann ich langsam wieder zu leben, ging in die Schule und traf mich mit Gleichaltrigen. Aber zu meinen alten Freunden in Bad Bergzabern nahm ich nie wieder Kontakt auf. Ich hatte das Bedürfnis, alles Alte hinter mir zu lassen.«
Wenberg nahm den Stift erneut in die Hand und notierte sich etwas. »Kennen Sie eine Paula?«
»Paula?« Billy schnaubte verächtlich. »Allerdings.« Sie rümpfte die Nase. »Aber was hat Paula mit Clarissas Tod zu tun?«
»Das wissen wir noch nicht.« Aus dem Aktenordner zog sie einen Stapel Blätter, der mit einer einfachen Heftklammer an der Ecke zusammengehalten wurde, und legte ihn vor Billy. Ein schmuckloser Text, offenbar auf dem Computer geschrieben. Irritiert las Billy die Überschrift. >Paula und Billy<, stand in dicken Buchstaben oben auf dem ersten Blatt.
»Was soll das?« Billy schnellte mit ihrem Kopf so hastig hoch, dass der Stuhl wackelte.
»Das fanden wir bei Frau Puhlmann. Wir gehen davon aus, dass sie es Ihnen zeigen wollte.«
Billy starrte auf das Blatt. Der Kranz auf Julias Beerdigung fiel ihr ein. Sie warf einen kurzen Blick auf die Kommissarin. »Darf ich es lesen?«
»Natürlich.«
Billy nahm den Stapel in die Hand und stützte ihre Ellenbogen vor sich auf den Tisch. Mit pochendem Herz begann sie, zu lesen.
9.
Paula und Billy
Eine majestätische Welle, die sich mit der mächtigen Kraft der Gelassenheit dem Strand nähert, bis der abflachende Meeresgrund sie am ungestörten Fortschreiten hindert und sie eine wütende Gischt bilden lässt, erst nur als leichtes Kräuseln bemerkbar, dann immer tosender, aufgeladen durch die Wut über das Hindernis. Unmöglich, sich dieser Welle entgegen zu stellen, ihr die Stirn zu bieten. Sie würde einen ohne Zögern schlucken, durch ihre Schwärze wirbeln und schließlich schwer verwundet wieder ausspucken. Die einzige Chance wäre, auf der Welle zu reiten, sich ihrem Willen anzupassen und sich von ihr an das sichere Ufer tragen zu lassen.
So eine Welle war Billy.
Und die meisten Schüler des Gymnasiums von Bad Bergzabern kannten Paula als eines jener törichten Wesen, das versucht hat, gegen die Welle zu kämpfen. Doch nur wenige wissen, dass Billy und Paula früher einmal Freundinnen waren.
Die kokette Paula mit ihrem puppengleichen Gesicht und die glorreiche Billy mit den rotblonden Haaren trafen sich in der ersten Klasse. Jedes der beiden Mädchen hätte es auch alleine zu Ansehen in der strengen Hierarchie einer Grundschule gebracht, Paula durch ihre guten Noten, ihr artiges und folgsames Wesen und ihr reizendes Äußeres. Billy durch ihr unerschütterliches Selbstvertrauen und ihren Willen, zu herrschen.
Gemeinsam waren sie ein bewundertes Duo. Wer von den Freundinnen eingeladen wurde, auf dem Pausenhof mit ihnen Hüpfgummi zu spielen, der hatte den Ritterschlag erhalten und galt als beliebt. Und wer dagegen den Freundinnen missfiel, der hatte es schwer, jemanden zu finde, der den Platz auf der Schulbank neben ihm besetzte.
Im ersten Jahr trafen sich die beiden beinahe jeden Nachmittag, saßen in ihren Zimmern, hörten Musik von Sandra und Modern Talking und schworen sich ewige Freundschaft. Jede war im Hause der anderen ein willkommener Gast, doch erst im zweiten Jahr kam ihnen der Einfall, dass auch ihre Eltern miteinander Freundschaft schließen sollten. Die artige Paula lebte alleine mit ihrem Vater, einem Ingenieur, der aussah wie ein gutmütiger Holzfäller, in einem großzügigen Reihenhaus und wurde von ihrer Mutter nur alle paar Wochen für zwei Tage abgeholt. Pflichtbesuche, auf die weder Paula noch deren Mutter großen Wert legte.
Billy hatte ihren Vater nie kennengelernt, er hatte sich bereits vor ihrer Geburt verdrückt, ein Umstand, den die Mutter ohne Bitterkeit akzeptiert hatte.
»Die beiden könnten heiraten und dann wären wir Schwestern«, sagte Billy eines Tages, und Paula war begeistert.
Es war leicht, die Eltern zu einem gemeinsamen Sonntagsausflug mit den Fahrrädern zu überreden, und allen gefiel der Tag so gut, dass man sich fortan öfter traf.
Bald wurden regelmäßige Spaziergänge und gemeinsame, von Billys Mutter liebevoll zubereitete Mahlzeiten zur Alltäglichkeit, aber zum Ärger der ungeduldigen Mädchen machte Wolfgang, Paulas Vater, keine Anstalten, Billys Mutter Ursula
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