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Schattenbrut (German Edition)

Schattenbrut (German Edition)

Titel: Schattenbrut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Seider
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öffnete die Tür und stieg aus. Sie stemmte die Hände in die schmerzenden Rippen und sah in den Himmel. Wie im Schwindel drehte sie sich mehrere Male um sich selbst, schwankte und ließ sich schließlich auf allen Vieren nieder. Sie legte ihre Stirn auf die feuchte Erde. Spitze Steine bohrten sich in ihre Haut. Sie wollte schreien, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. In ihr war nichts als Stille. Leere, tosende Stille. So musste sich der Tod anfühlen. Sie presste die Stirn fester gegen den Boden, tief in die Steine hinein, als könnte sie so ihre Seele spüren, herauspressen aus ihrem Körper. Etwas, das sich lebendig anfühlte, die Leere füllen könnte.
    Dies war schlimmer als der Tod. Ihr Sohn war in ihr Leben getreten, um sie zu vernichten. Weil er sie hasste. Und sie hatte seinen Hass verdient.
    Ein Wimmern erschütterte ihren Körper und sie ließ die Tränen zu.
    Sie weinte um Oren, um Frank, weinte um ihre Freundschaft zu Paula und um Clarissa.
    Sie weinte, bis sie völlig leer war.
    Spürte, wie ihr Schluchzen langsam verebbte, und hörte die fröhlichen Vogelstimmen. Sie hatten etwas Makaberes.
    Eine eigenartige Ruhe überkam sie plötzlich. Ihr Atem zitterte nur noch schwach, sie löste den Druck ihrer Stirn, ließ ihren Kopf aber auf dem Boden ruhen. Sie fühlte den Wind auf ihrem Rücken. Totenstille, kalte Einsamkeit. Sie atmete. Zitternd zwar, aber sie atmete. Zumindest dies war real.
    Fahre weiter, bis du den Weg nicht mehr weißt, fiel es ihr ein. War dies eine Zeile aus einem Lied? Sie wusste es nicht mehr.
    Fahre weiter, bis du den Weg nicht mehr weißt.
    Sie wusste nicht mehr viel weiter, doch immer noch genug, um den nächsten Schritt gehen zu können.
    Entschlossen stand sie auf, klopfte sich Erde und Steine von ihrer Kleidung, wischte sich mit dem Handrücken das Gesicht ab und stieg in ihren Wagen.

26.
     
    Nach einer halben Stunde Fahrt hatte sie das Gefühl, als würde sie aus einem dunklen Traum erwachen. Links malten die Ausläufer des nördlichen Schwarzwaldes scharfe Konturen in den milchblauen Himmel. Billy ließ das Fenster herunter und genoss den Fahrtwind auf ihrem schweißnassen Gesicht. Sie schob den Rückspiegel zurecht und betrachtete sich darin. Ein Gespenst blickte ihr entgegen. Sie zog eine Grimasse und drehte den Spiegel zurück. Die Wahrheit mochte schmerzhaft sein, aber sie war etwas, auf das man bauen konnte. Oren also. Grausam, aber logisch. Oren hatte sich an Paula herangemacht, weil er irgendwie herausbekommen hatte, dass sie einmal Billys Freundin war und er durch sie Informationen über Billy erhalten konnte.
    Er wusste genug, um den Text zu schreiben.
    Das scheinbar zufällige Aufeinandertreffen am Tag von Julias Beerdigung.
    Der Abend des Mordes, als er bei ihr aufgetaucht war. Er wollte, dass die Polizei sein Auto sah. Und er wollte, dass Billy es wusste. Er wollte, dass sie wusste, was er getan hatte, wohl wissend, dass er sie damit am meisten treffen konnte. In ihr Leben treten, ihr ein paar Tage lang das Gefühl geben, dass alles gut werden würde, nur um sie dann umso tiefer treffen zu können.
    Er hatte das alles geplant. Wahrscheinlich hatte er schon lange an seinem perfiden Plan gefeilt. Seit drei Jahren hatte Billy damit gerechnet, dass er plötzlich auftauchen würde. Und sie hatte dafür gesorgt, dass er sie finden würde. Hatte ihre Daten bei den Ämtern hinterlassen und letztes Jahr, nach ihrem Umzug nach Emmendingen, aktualisiert. Mit sechzehn hatten adoptierte Kinder das Recht, ihre Unterlagen beim Jugendamt einzusehen. Wochen vor seinem sechzehnten Geburtstag hatte sie bereits die Tage gezählt, sicher, dass er es ebenfalls tun würde. Hatte an seinem Geburtstag und die Wochen danach pausenlos auf ihr Telefon gestarrt. Es hatte lange gedauert, bis sie begriff, dass er sich nicht melden würde.
    Sie konnte nur noch nicht verstehen, was ihn zu seinem Tun veranlasst hatte. Rache?
    Rache dafür, dass sie ihn damals weggegeben hatte? Der Gedanke fühlte sich zu banal an. Aber war das die Wahrheit nicht meistens? Erschreckend banal und einfach, so einfach, dass sie gerne übersehen wurde.
    Doch was er auch getan hatte, er war immer noch ihr Sohn.
    Sie hatte noch gestern im Jazzhaus anrufen wollen, um die Behauptung von Gabriel zu überprüfen, doch sie hatte Angst gehabt. Nun war der Anruf hinfällig geworden.
    Fahr weiter, bis du keinen Weg mehr siehst, erinnerte sie sich. Sie musste mit ihm sprechen. Sie würde alles ertragen, doch sie wollte es

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