Schattenbrut (German Edition)
zischte er.
Sie hielt inne.
»Sei ruhig«, wiederholte er und kam einen Schritt auf sie zu. Sie wagte nicht, Luft zu holen.
»Du weißt nicht, wie es ist, das Kind in der Familie zu sein, das immer nur stört. Du ahnst nicht, wie man sich fühlt, wenn man immer nur als Versager angesehen wird.« Seine Augen waren eiskalt. »Du sagst, du willst Antworten.« Er kam noch näher. »Du sagst, du willst deine Fehler wiedergutmachen.« Er spuckte auf den Boden. »Das will ich auch. Auch ich würde gerne meine Fehler wiedergutmachen. Aber so etwas funktioniert nicht. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Also muss man schauen, dass die eigenen Sünden einen nicht einholen.« Er machte noch einen Schritt auf sie zu. »Ich will nur noch eines von dir. Halte dich von mir fern und lass mir mein Leben.«
Ihre Gesichter waren keinen Meter voneinander entfernt. Deutlich sah sie seine feuchte, feinporige Haut, die sich über seinen Wangenknochen spannte, sah den dünnen Schweißfilm oberhalb seiner Lippen, die dichten, langen Wimpern.
Die Haare an ihren Unterarmen stellten sich auf. Seine Augen waren gerötet und schmal. Sie erkannte die Angst in ihnen. Und den Schmerz. Wie gelähmt erwiderte sie seinen Blick. Sie wollte etwas sagen. Es ging nicht. Dafür öffnete Oren seine Lippen. Eine feine Dampfwolke drang aus seinem Mund.
»Es tut mir leid«, hörte sie ihn flüstern, deutlich und dennoch wie aus weiter Ferne. Ihre Brust zog sich zusammen.
Mir tut es leid, wollte sie sagen, doch wieder kam kein Laut über ihre Lippen. Wie hypnotisiert starrte sie ihn an, sah wie in Zeitlupe, dass er seinen Arm anwinkelte.
»Mir tut es leid«, wollte sie erneut sagen, es herausschreien, während seine Faust auf sie zuflog. Dann jagte ein Blitz durch ihren Kopf.
27.
Blind taumelte Billy nach hinten, während ihre Hände vergeblich nach einem Halt suchten. In ihrem Kopf tobte ein Feuerwerk und sie fixierte all ihre Gedanken auf das Ziel, bei Bewusstsein zu bleiben.
Erst als sie das Gefühl hatte, den Boden sicher unter ihren Füßen zu spüren, ließ sie sich auf die Knie sinken und presste die Hände auf ihre Gesichtsmitte. Aus unendlicher Entfernung hörte sie das Aufheulen eines Motors, ohne den Sinn des Geräusches zu begreifen. Ihre Nase fühlte sich warm und klebrig an. Sie drückte ihre Hände noch fester dagegen und blieb einen Moment in dieser Haltung. Als der Schmerz nachließ, öffnete sie vorsichtig ihre Augen und ließ die Hände auf ihre Knie sinken. Sie blinzelte zaghaft. Sie schien okay. Ihre Handflächen waren verschmiert von Blut und Erde und hatten schmutzige Spuren auf ihren hellen Jeans hinterlassen, ihr Kopf dröhnte, als hätte sie Stunden in einer Diskothek verbracht. Langsam richtete sie sich auf und drehte sich um. Ihr Audi stand verlassen am Waldrand. Oren war verschwunden. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke das Blut aus dem Gesicht und trat behutsam von einem Bein auf das andere. Sie war okay. Zumindest körperlich.
Unsicher stakste sie zu ihrem Auto, stieg ein und fuhr im Schritttempo los. Es gab keine Eile mehr, und als sie in Freiamt auf Ursulas Haus zufuhr, war es, als wäre ihr Körper wie von selbst gefahren. Sie hatte keinerlei Erinnerungen an den Weg.
Der Küchentisch war liebevoll für drei Personen gedeckt und es roch nach Kräutern der Provence, als Billy das Haus betrat.
»Genau rechtzeitig zum Essen«, rief Ursula vom Herd aus und hielt inne, als Billy die Küche betrat. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und lief eilig auf ihre Tochter zu. »Was ist passiert?«, fragte sie erschrocken. Billy fiel ein, dass sie wahrscheinlich noch immer blutverschmiert war und ging zum Waschbecken, um sich mit einem Tuch abzuwischen.
»Was ist passiert?«, fragte nun auch Tamy und sprang von ihrem Platz auf der Eckbank auf, um Billy ein sauberes Handtuch zu bringen. Billy wischte sich damit ab und ließ sich dann auf einen Stuhl fallen.
»Setzt euch lieber«, forderte sie die beiden Frauen auf. Dann berichtete sie, was heute geschehen war.
Wie erwartet reagierte Ursula entsetzt, und ihr Gesicht schien jede Minute blasser zu werden.
Als Billy schilderte, wie Oren an ihr vorbeigestürzt war und das Lokal verlassen hatte, fiel Ursula regelrecht in sich zusammen und schien Billy nicht mehr richtig zu folgen, als diese von der Verfolgungsjagd berichtete. Erst als sie von den wenigen Worten im Wald erzählte, die Oren gesagt hatte, hing sie wieder an Billys Lippen.
»Oh mein Gott«,
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