Schattenbrut (German Edition)
panisch den Riemen ihrer Schultasche. Sie wollte ihr Tagebuch zurück. Jetzt sofort, bevor Frank darin lesen würde.
»Was ist?«, hakte Frank nach.
Sie dachte an Billy. Was würde Billy sagen?
Frank hob die Hand zu einem Gruß. »Ich warte bis fünfzehn Uhr.« Dann ging er, und Tamy stand im Nieselregen und starrte ihm hinterher.
Gleich nach dem Mittagessen fuhr sie mit dem Fahrrad zu Frank. Er wohnte auf einem Hügel, und ihre Lunge brannte, als sie das Haus mit dem tiefgezogenen Dach erreichte. In ihrer Hosentasche hatte sie einen Film. Nicht den Film, aber wie sollte er den Unterschied erkennen? Mit vor Anstrengung zitternden Händen drückte sie den Klingelknopf. Als hätte Frank direkt hinter der Tür gewartet, öffnete er sofort. Er trug altmodische Filzpantoffeln.
»Hast du den Film?«, begrüßte er sie. Tamy nickte und holte ihn aus ihrer Hosentasche. Er wollte danach greifen, doch sie zog ihre Hand zurück.
»Erst mein Tagebuch.«
»Woher soll ich wissen, dass es der richtige Film ist?«
Sie wurde nervös. »Es ist der richtige Film.«
»Komm rein.« Er trat zurück und ließ sie in den Flur hinein. Es roch nach Grillhähnchen. Frank führte sie in das Wohnzimmer und ging zu einer Schrankwand.
»Hier liegt es.« Er zeigte auf das oberste Fach eines Regalelements und sie sah den Ledereinband von ihrem Tagebuch neben einer faustgroßen Katze aus weißem Porzellan.
»Wir gehen jetzt gemeinsam zum Fotoladen in die Stadt und lassen den Film entwickeln. Wenn es der Richtige ist, kommen wir zurück und du bekommst dein Tagebuch.
Hektisch sah Tamy nach hinten in den Flur, niemand schien hier zu sein. Sie dachte an all ihre Tagebucheinträge, an ihre Träume und Sehnsüchte. Sie dachte an Billy. Sah deren wütende Augen vor sich. Ihr Kopf wurde schon wieder heiß.
Mit einem Satz war sie bei der Schrankwand, stieß Frank zur Seite und stellte sich auf die Zehenspitzen, um nach dem Buch zu greifen. Sie bekam es zu fassen und streckte den freien Arm von sich, um Frank abzuwehren. Der rannte zu der Kommode unter dem Fenster und riss eine Schublade auf. Tamy wollte wegrennen, doch das Tagebuch fiel ihr aus der Hand. Während sie sich bückte, sah sie, dass Frank eine Waffe in der Hand hielt.
»Lass es liegen«, sagte er kalt.
Sie verharrte in ihrer Stellung, den Kopf nach oben gebogen, um Frank nicht aus den Augen zu lassen. Er bluffte.
»Geh zur Seite«, befahl er.
Wie in Zeitlupe richtete sie sich auf und hob ihre Hände vor ihre Brust. Einen Schritt nach rechts.
Mit erhobener Waffe lief Frank auf sie zu, bis seine Fußspitzen das Tagebuch berührten. Er beugte sich seitlich nach unten, weit genug, um mit den Fingern das Buch fassen zu können, die Pistole und seine Augen stur auf Tamy gerichtet. Mit dem Buch in der Hand richtete er sich auf und machte einen Schritt nach hinten.
»Du hast wohl doch gelogen«, stellte er fest. »Du fährst jetzt heim und kommst mit dem richtigen Film zurück.«
Tamys Hände, die sie noch immer von sich weggestreckt hatte, zitterten. Er bluffte. Sie war sicher, dass er bluffte. Wieder sah sie Billy vor sich. Frank hielt ihr Tagebuch fest umklammert. Tamy spannte ihre Beinmuskeln an, ging leicht in die Hocke und sprang. Ein Satz, und sie stieß Frank nach hinten. Sie hörte, wie ihr Tagebuch auf den Boden fiel. Mit aller Kraft drückte sie seine Hand mit der Waffe von ihr weg.
Es knallte.
Er sah sie an. In seinen Augen lag Erstaunen. Langsam, unendlich langsam, sank sein Körper in sich zusammen, und sie sah deutlich, wie die Verwunderung in seinen Augen erlosch und einer grenzenlosen Leere wich. Als er zu Boden fiel, klang es, als würde man eine schwere Einkaufstasche fallenlassen.
Sie war gelähmt. Ihr eigener Atem schwoll in ihren Ohren zu einem bedrohlichen Dröhnen heran. Ein dunkler Fleck bildete sich auf Franks Brust. Ihr Atem wurde schneller. Flacher. Lauter. Frank lag reglos auf dem Boden, und alles, was sie wahrnehmen konnte, war ihr Atem.
34.
Draußen hörte man das Rufen eines Käuzchens, ein fast makaberes Geräusch, welche die unheimliche Stille zerriss. Tamys Wangen glänzten nass von Tränen, doch ihre Mimik war entspannt.
»Was geschah dann?«, fragte Billy.
»Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da stand und Frank ansah. Vielleicht waren es zehn Minuten, vielleicht auch nur wenige Sekunden. Plötzlich begriff ich, was geschehen war. Und ich rannte weg. Ich rannte aus dem Haus, ohne die Tür zu schließen, ich sprang auf mein Fahrrad und
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