Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
Er schlug die Augen auf, sah, wie sich der Tiger abermals anpirschte, und wollte, einer ersten instinktiven Regung folgend, sein Schwert hochreißen, um sich zu verteidigen.
Doch Aydrian verzichtete auf diese aussichtslose Taktik. Mit aller Kraft ließ er sich abermals in den Hämatit fallen, versetzte dem Wertiger mit einer Explosion mentaler Energie einen heftigen Schlag und erzwang damit ein zweites Patt. Aydrian musste ebenso viel einstecken, wie er austeilte, als er versuchte, irgendeinen Hinweis, einen Einblick zu erhalten. Schließlich spürte er etwas, das ihm einleuchtend erschien und ihm neue Hoffnung gab: Mitleid?
Der Hüter änderte seine Taktik. Statt die Bestie frontal anzugreifen, versuchte er sie jetzt zu umgehen und schickte – nicht dem Tiger, sondern dem Mann dahinter – eine Woge aus Mitgefühl und Sympathie. Er redete mit Engelszungen auf ihn ein, drängte und bekniete diesen winzigen Funken Menschlichkeit, sich mit ihm gegen ihren gemeinsamen Feind, gegen die wilde, urwüchsige Bestie, zu verbünden.
Marcalo De’Unnero vermochte den Ruf nicht einzuordnen, der an sein menschliches Bewusstsein appellierte. Er wusste nur, dass er sich der Geschehnisse um ihn herum bewusst – voll bewusst – war, dabei war er rein körperlich noch immer in dem Wertiger und seinen urwüchsigen Trieben gefangen.
Trotzdem spürte er, wie der Ruf zu ihm durchdrang und ihm versprach, wenn er der Stimme folgte, könne er – könnten sie gemeinsam – den Wertiger im Zaum halten. De’Unnero war sich deutlich bewusst, dass er in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt war, aber er konnte der Versuchung nicht widerstehen; er erhörte die besänftigende Stimme und nahm sie bereitwillig an.
Dann folgte das erste schmerzhafte Schaudern; die Knochen begannen zu brechen und sich umzubilden, und er durchlebte eine Umwandlung seiner gesamten Gefühlswelt, als seine Sinneswahrnehmungen von denen der Raubkatze in die des Mannes übergingen.
Trotzdem behielt er seine fünf Sinne beieinander, um in diesen Augenblicken, in denen er am verletzlichsten war, noch zurückspringen und der gefährlichen Klinge seines Gegners ausweichen zu können.
Und dann war es vorbei; Marcalo De’Unnero stand an einen Baum gelehnt da und sah diesen seltsamen, seltsam vertrauten jungen Burschen über den Weg hinweg an. Das freche Grinsen im Gesicht des jungen Burschen verriet De’Unnero ohne jeden Zweifel, dass er es war, der seine Verwandlung bewirkt hatte, dass dieser erstaunliche junge Bursche, der wirklich nichts von einem Abellikaner-Mönch hatte – und im Übrigen viel zu jung aussah, als dass er dem Orden überhaupt hätte angehören können –, über ein gewaltiges Geschick mit den magischen Steinen verfügte.
»Wer bist du?«, fragte De’Unnero; er war wirklich neugierig geworden.
Aydrians Lächeln war echt. Er hatte begriffen und akzeptiert, dass er dem Wertiger nicht gewachsen war, dass die große Raubkatze über ein zu großes Waffenarsenal verfügte und ihm an purer Körpermasse und Kraft weit überlegen war, zumal er nur dieses schlecht ausbalancierte und kaum brauchbare Schwert in Händen hielt. Also hatte er es getan; er hatte die Bestie gezwungen zu verschwinden, und jetzt stand ihm dort nur ein nackter, älterer Mann gegenüber, an einen Baum gelehnt, als müsste er sich daran abstützen.
»Ich hatte gehofft, mit dem Kopf einer großen Katze ins Dorf zurückzukehren«, erwiderte Aydrian lässig. »Aber Euer Kopf wird es auch tun.« Er ging, sein Schwert schwingend, auf ihn zu.
»Wer bist du?«, wiederholte De’Unnero seine Frage, während er sich hinter den Baum zurückzog, um ein wenig Zeit zu gewinnen.
»Ich bin Tai’maqwilloq «, antwortete der junge Hüter. »Ein Name, den Ihr Euch für den Rest Eures jämmerlichen Daseins werdet merken müssen, auch wenn mir das kaum die Unsterblichkeit meines Ruhms garantieren wird!« Mit seinen letzten Worten rückte er weiter vor, um den Mann aus seiner Deckung zu treiben.
Zu seiner Überraschung trat der Nackte plötzlich hinter dem Baum hervor und sah ihn an.
» Tai’maqwilloq? «, wiederholte De’Unnero, offenbar fasziniert vom fremdartigen, elfenartigen Klang des Namens. Tai’maqwilloq , das erinnerte ihn stark an einen anderen Namen, einen, den sein größter Widersacher damals in längst vergangenen Zeiten getragen hatte.
Aydrian trat ganz dicht vor De’Unnero und richtete sein Schwert auf ihn. »Gebt auf«, verlangte er. »Wenn Ihr die Dorfbewohner
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