Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
Gedanken – und die Möglichkeiten, die er beinhaltete – zu Ende denken konnte, sprang der Tiger ihn bereits an.
Aydrian tauchte seitlich weg, schlug mit seinem Schwert hinter sich und erzielte sogar einen Treffer, wenn auch nur einen halbherzigen Klaps gegen die orange-schwarz gestreifte Flanke. Im Gegenzug zerkratzte eine austretende Hinterkralle seinen Oberarm.
Der junge Hüter rollte sich ab, kam wieder auf die Beine, untersuchte rasch seine Wunde und stellte erleichtert fest, dass sie nur oberflächlich war. Allerdings gab ihm die Tatsache zu denken, dass er nach einem so perfekt ausgeführten Ausweichmanöver überhaupt getroffen worden war.
Als ihm klar wurde, dass er seinen Gegner nicht unterschätzen durfte, nahm Aydrian eine entschlossenere Haltung an.
Der Tiger entfernte sich ein paar Schritte, drehte sich um und hielt, entschlossen eine Pfote vor die andere setzend, genau auf Aydrian zu. Aydrian holte tief Luft und machte einen kleinen Ausfallschritt zur Seite; aber der Tiger bemerkte die Bewegung und änderte kaum merklich seinen Kurs.
Da holte Aydrian einen weiteren magischen Stein hervor, den er in seiner geschlossenen Hand verbarg. Als der Tiger absprang und mit solch übermenschlicher Plötzlichkeit auf ihn zugeschnellt kam, dass er Aydrians Verteidigung fast durchbrochen hätte, ohne selbst getroffen zu werden, ließ Aydrian sich in die Magie des Steins fallen. Dem jungen Hüter gelang ein wuchtiger Stoß, auch wenn er den Tiger damit kaum bremsen konnte. Dessen Vorderpfoten streiften den jungen Mann, schlitzten ihm die Schulter auf und prallten krachend gegen seinen Schädel. Er versuchte noch, zurückzuweichen, doch das kraftvolle Tier war viel zu schnell, setzte augenblicklich nach, überwältigte ihn, riss ihn zu Boden und begrub ihn unter sich.
Die Krallen waren kurz davor, seitlich an seinem Kopf einen Halt zu finden, die riesige Schnauze schob sich an seinem Schwertarm vorbei, als ein scharfer knisternder Lichtblitz Aydrian das Leben rettete. Die Wucht des Stoßes hob den Tiger in die Luft und schleuderte ihn neben der Straße in den Staub.
Aydrian kam wieder auf die Beine und versuchte, in entgegengesetzter Richtung davonrennend, ein wenig Abstand zu der fürchterlichen Bestie zu gewinnen. Ein flüchtiger Blick über seine Schulter sagte ihm, dass sein Lichtblitz der Bestie keinen nennenswerten Schaden zugefügt hatte. Sofort war ihm klar, dass er ernsthaft in Schwierigkeiten steckte, dass dieses Monstrum einfach viel zu kräftig und zu schnell für ihn war. Er schleuderte einen weiteren Lichtblitz, doch der Tiger wich zur Seite aus und gab dabei ein derart lautes Gebrüll von sich, dass Aydrian die Ohren dröhnten.
Er ließ sich aber nicht beirren und griff erneut zu seinem ersten Stein, dem Hämatit, drang tief in seine Magie ein und schleuderte der Bestie eine Woge geistiger Energie entgegen.
Der Tiger, der gerade begonnen hatte, sich abermals anzupirschen, verharrte augenblicklich, als ihn die geistige Attacke traf.
In diesem Augenblick spürte Aydrian die Magie des Wertigers – Steinmagie, ganz ähnlich seiner eigenen! Er spürte die ungeheure Willenskraft der Bestie, was seinen Respekt für sie nur noch vergrößerte; trotzdem verließ er sich ganz auf seine innere Kraft, fest davon überzeugt, diesmal nicht im Nachteil zu sein.
Er spürte die Mauer des Widerstands, stemmte sich mit der ganzen Kraft seiner Magie dagegen, versuchte die urwüchsigen Instinkte des Tieres zu überwinden und zu der eher rationalen Seite dieser Kreatur vorzudringen. Minutenlang verharrten die beiden regungslos in diesem geistigen Kampf, einem Elchpaar gleich, die Geweihe ineinander verhakt und die Hufe fest in den Boden gestemmt; und obschon sich die beiden körperlich nicht einmal berührten, war ihr Zweikampf nicht weniger heftig.
Aydrian ließ nicht locker, durfte nicht locker lassen. Mit einer aus lebenslangem diszipliniertem Training erwachsenen Entschlossenheit bedrängte der junge Hüter den Tiger, traf ihn mit Schüben verwirrender, geistiger Energie und versuchte, ihn mit purer Willenskraft in das Bewusstsein seines menschlichen Wirts zurückzudrängen.
Ebenso gut hätte er versuchen können, Rauch in eine Flasche zu befördern; der zähe Schutzwall verschob sich, eröffnete ihm Lücken, durch die seine Willenskraft vorstoßen konnte, um gleich dahinter wirkungslos im Nichts zu verpuffen.
Der junge Hüter bekam es mit der Angst, und das raubte ihm einen Teil seiner Konzentration.
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