Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
Namen
STOLZ
Vor Augen führte.
Bischof Braumin hatte ihr von der Steinplatte berichtet und wissend gelächelt, als er dazu erklärte, Meister Fio Bou-raiy habe sich geradezu leidenschaftlich für diesen Text eingesetzt. »Was Männer so alles tun, wenn sie sich einen Vorteil davon versprechen«, entfuhr es Jilseponie leise, als sie an die Pest und den hitzigen einarmigen Meister dachte. Sie wusste sehr wohl, dass Fio Bou-raiy Francis gehasst hatte, als dieser ausgezogen war, um den bedauernswerten Opfern der Rotflecken-Pest vor den Toren von St. Mere-Abelle beizustehen. Sie wusste nur zu gut, dass Fio Bou-raiy, der sich unter keinen Umständen dazu bewegen ließ, den Pestkranken auch nur nahe zu kommen, erleichtert, ja geradezu froh gewesen war, als Francis krank wurde, denn für ihn war das der Beweis, dass sein eher feiges Unterkriechen in der Abtei zweifellos das richtige Vorgehen für die Brüder des Abellikaner-Ordens war.
Jilseponie hatte Bruder Francis’ Tod miterlebt und wusste, dass der Mann zufrieden, erfüllt und in der sicheren Gewissheit, sein Seelenheil gefunden zu haben, in den Tod gegangen war.
Beim Betrachten der Steinplatte trat ein wehmütiges Lächeln auf ihr Gesicht. Ja, Bou-raiy hatte Francis, nachdem dieser sich von Markwarts Methoden abgewandt hatte, bis zuletzt bekämpft.
Und jetzt stand Jilseponie hier, bereit, in diese mächtige Abtei einzutreten und ihre Stimme für Fio Bou-raiy abzugeben, damit dieser der nächste ehrwürdige Vater des Abellikaner-Ordens wurde.
Die Ironie der Situation entging ihr keineswegs. Die Nachricht vom Tod des ehrwürdigen Vaters Agronguerre hatte sie, zusammen mit einer Einladung ins Abteikollegium, Anfang des Bafway, des dritten Monats, erreicht. Kurz darauf war sie aufgebrochen. Auf ihrer Reise von Ursal hatte sie sich oft überlegt, ihre Stimme und das ganze Gewicht ihres Einflusses stattdessen für Bischof Braumin in die Waagschale zu werfen. Aber Braumin war zu jung und unerfahren und würde seitens der stimmberechtigten Meister von St. Mere-Abelle und vermutlich auch seitens all der anderen Meister und Äbte östlich des Masur Delaval keinerlei Unterstützung erhalten.
Und es gab nur noch einen weiteren Abt, der in der Lage war, sich das begehrte Amt unter den Nagel zu reißen: Abt Olin.
König Danube hatte seine Gemahlin geradezu angefleht, dafür zu sorgen, dass Olin nicht gewählt wurde, und was immer sie persönlich für Fio Bou-raiy empfand, Jilseponie wusste, dass die Wahl des Abts aus Entel mit seinen engen Verbindungen zu Behren für ihren Gatten und für das gesamte Bärenreich zur Katastrophe werden konnte.
Und so hatte sich Fio Bou-raiy leidenschaftlich für diese versöhnliche Gedenktafel zu Bruder Francis’ Ehren eingesetzt. Mit ebenso großem Eifer hatte er Jilseponie bedrängt, erst für das Amt der Bischöfin von Palmaris und schließlich auch für das der obersten Ordensschwester von St. Honce zu kandidieren, nicht nur, um auf diese Weise den Einfluss der Kirche in Palmaris zu mehren, sondern auch, um Jilseponie in die stimmberechtigte Kirchengemeinde einzuführen, denn er wusste ganz genau, dass sie, als Königin des Bärenreiches, jeden, sogar ihn, dem Abt Olin aus St. Bondabruce in Entel vorziehen würde.
Das alles wusste sie, und im Grunde konnte sie nur darüber lächeln. Der Dämon, den sie kannte, nämlich Meister Fio Bou-raiy, konnte ihr keine großen Probleme bereiten. Da er ihre Unterstützung und die Braumins und seiner Freunde wollte, war er auch geradezu verzweifelt auf einen mächtigen Rückhalt im Volk des Bärenreiches aus. Was immer seine persönlichen Empfindungen oder Fehler sein mochten, Fio Bou-raiy würde stets alles tun, um sich dieses Rückhalts zu versichern, und damit auch stets im besten Interesse der Bevölkerung des Bärenreiches handeln. Er sah, welche Unterstützung Avelyn erfuhr – wie hätte er dies in den Jahren so kurz nach den Verheerungen der Pest auch übersehen können –, und würde versuchen, sich zum Vorreiter dieser Bewegung zu machen.
Daher konnte Jilseponie die bevorstehende Abstimmung reinen Gewissens akzeptieren; sie konnte den Boten verteufeln und die Botschaft gutheißen; und die Botschaft des ehrwürdigen Vaters Bou-raiy würde diesmal positiv, vielleicht sogar gütig ausfallen.
Mit einem schweren Seufzer trat Jilseponie durch die mächtigen Tore von St. Mere-Abelle.
»Die Bestie bricht wieder aus«, sagte Sadye zu Aydrian, als sie den Vorhang zur Seite zog, der
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