Schattenelf - 3 - Der Herr der Flammen
mein junger Freund«, erwiderte der Chezru-Häuptling. »Sondern lediglich eine Erinnerung. Wenn wir an die Offenbarung Yatols glauben, dann sollten wir auch den Tod mit offenen Armen willkommen heißen und ganz darauf vertrauen, dass wir ein der Wolke Chez würdiges Leben gelebt haben. Soll ich unter diesen Umständen etwa traurig sein, dass bald das Paradies mein Zuhause wird?«
»Aber deshalb sehnen wir den Tod doch nicht herbei, Stimme Gottes –«
»Nichtsdestotrotz spüre ich, wenn der Tod mich ruft«, fiel ihm Yakim Douan ins Wort. »Es gehört zu meinem Amt zu wissen, wann der Tod naht, damit die Menschen in meiner Umgebung – also Ihr, Merwan Ma – die Vorbereitungen für die Suche nach der nächsten Stimme Gottes einleiten können. Versteht Ihr das?«
Merwan Ma schlug die Augen nieder. »Ich fürchte ja, Stimme Gottes«, erklärte er.
»Ihr werdet gewiss nicht versagen.«
»Aber wie werde ich es wissen?«, fragte der junge Leibdiener, der plötzlich den Blick zum Chezru-Häuptling hob. »Woher soll ich wissen, dass ich den richtigen Ersatz ausgewählt habe? Das ist eine beängstigende Verantwortung, Stimme Gottes. Eine Verantwortung, der ich nicht gewachsen bin, fürchte ich.«
»Doch, seid Ihr«, widersprach Yakim Douan lachend. »Seid versichert, das Kind wird Euch sofort ins Auge fallen. Als ich erwählt wurde, konnte ich das ganze Vierte Buch der Prophezeiungen rezitieren.«
»Aber könnte eine Mutter ihr Kleines nicht entsprechend unterrichten, wenn sie möchte, dass es in dieses Amt aufsteigt?«
»Ich war damals noch nicht einmal zwei Jahre alt!«, erwiderte Yakim lachend. »Und konnte trotzdem jede Frage beantworten, die mir der Yatol-Rat stellte. Oder zweifelt Ihr etwa an der Richtigkeit seiner Entscheidung?«
Merwan Ma erbleichte.
»Das sollte keineswegs ein Vorwurf sein, junger Freund«, beruhigte Yakim ihn. »Ich wollte Euch lediglich versichern, dass Ihr ihn erkennen werdet. Euer Vorgänger äußerte seinerzeit ganz ähnliche Bedenken … wie mir zu Ohren kam«, fügte der Chezru-Häuptling rasch hinzu, denn wie hätte er aus eigener Erfahrung wissen sollen, was Merwan Mas Vorgänger gesagt hatte oder nicht?
»Trotzdem«, fuhr Merwan Ma sichtlich nervös fort. »Sobald das Kind gefunden ist –«
»Werden auch Eure Pflichten klar sein, zumal zahlreiche Aufzeichnungen über Präzedenzfälle existieren«, fiel Yakim Douan ihm ins Wort. »Im Übrigen sind diese Pflichten minimal, seid ganz beruhigt. Ihr werdet auf das Kind aufpassen und dafür Sorge tragen, dass es in den ersten Jahren seines Lebens wohl versorgt ist. Das ist keine übermäßig schwierige Aufgabe, möchte ich meinen.«
»Und seine Ausbildung und Erziehung? Wer wird die neue Stimme Gottes in den Bräuchen Yatols unterweisen?«
Noch bevor Merwan zu Ende gesprochen hatte, begann Yakim Douan bereits zu lachen. »Er wird Euch unterweisen, sofern Ihr den Wunsch danach verspürt! Begreift Ihr nicht? Der Knabe wird mit einem voll entwickelten Bewusstsein und einem umfassenden Verständnis für alles, was Yatol ausmacht, zur Welt kommen. Oder zweifelt Ihr etwa daran?«, fragte der Chezru-Häuptling und blickte in das von tiefen Sorgenfalten gezeichnete Gesicht Merwan Mas. »Selbstverständlich zweifelt Ihr!«, fügte Yakim hinzu, um die Spannung zu lösen, bevor sie überhaupt entstehen konnte. »Weil Ihr das Wunder der Transzendenz noch nicht erlebt habt. Ich schon, und zwar aus eigener Anschauung! Ich kann mich noch gut an die allerersten Tage erinnern; ich brauchte damals keine Unterweisung, ich brauchte überhaupt nichts, nur den Aufstieg zu einer höheren Bewusstseinsstufe. Danach verstand ich alles, was unsere geliebten Chezru betraf, im Guten wie im Schlechten, und zwar besser als alle um mich herum. Keine Angst, mein Freund. Allem Anschein nach wird Eure Dienstzeit im Haus des Chezru-Häuptlings in wenig mehr als einem Jahrzehnt beendet sein.«
Falls diese Worte auch nur den geringsten Trost für Merwan Ma bedeuteten, so war ihm das nicht anzusehen; sein Gesichtsausdruck ließ eher das Gegenteil vermuten.
»Ihr wisst, das ist die Wahrheit«, hakte Yakim nach.
»Es ist, wie Eure Todesahnung auch, kein Thema, über das ich gerne spreche, Stimme Gottes.«
»Ach, Unsinn«, widersprach Yakim mit einem herzhaften Lachen und tätschelte abermals den Arm seines jungen Dieners. »Ihr braucht nichts weiter zu tun, als mir zu dienen und anschließend der nächsten Stimme Gottes zu ihrer Bewusstwerdung zu verhelfen; danach
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