Schattenelf - 3 - Der Herr der Flammen
blieb größtenteils klar und frisch; und obwohl sie sich auf einer geringeren Höhe durch die Ausläufer des Gebirges bewegten, war die Jahreszeit bereits weit vorangeschritten.
Die ganze Zeit über versuchte Brynn sich zu orientieren und hielt nach einem markanten Punkt Ausschau – nach einer schroffen, charakteristischen Bergflanke etwa oder einem verschlungenen Bachlauf –, der ihrer Erinnerung aus Kindertagen auf die Sprünge helfen und ihr eine Vorstellung davon vermitteln würde, wo die To-gai-ru ihr Winterlager bezogen haben könnten. Es wäre ungewöhnlich, wenn ein Stamm sich zu dieser fortgeschrittenen Jahreszeit noch so nah bei den Bergen aufhielte, daher war sie überaus erleichtert, als sie eine dünne Rauchsäule erspähte, ein untrügliches Zeichen, dass jemand dort sein Lager aufgeschlagen hatte.
Sie schwang sich auf Nestys kräftigen Rücken und trieb das willige Pony zu einem forschen Tempo an. Bei dem Gedanken, zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt, zum ersten Mal, seit sie erwachsen geworden war, ihre eigenen Leute wiederzusehen, bildete sich eine Gänsehaut auf ihren nackten Armen, bekam sie einen trockenen Mund und feuchte Hände. Ihre Nervosität wuchs mit jedem Schritt, und sie musste sich immer wieder daran erinnern, dass sie auf dieses Treffen bestens vorbereitet war. Die Touel’alfar hatten sie in vielen Künsten ausgebildet, die in ihrem Volk hoch angesehen waren, hatten keine Mühen gescheut, sie nicht in ihrem eigenen Singsang, sondern in ihrer Muttersprache zu unterrichten.
Plötzlich fiel ihr ein, dass die Elfen Aydrian in puncto Sprachunterricht mitnichten ebenso behandelt hatten. Brynn konnte sich nicht entsinnen, dass Lady Dasslerond oder einer der anderen sich mit Aydrian in der bei der Bevölkerung des Bärenreichs gebräuchlichen Sprache unterhalten hätte; stets war nur die Elfensprache verwendet worden. Das erschien ihr merkwürdig und bewirkte aus einem für sie nicht recht nachvollziehbaren Grund, dass sich ihr die Nackenhaare sträubten. Aber für solche Überlegungen hatte sie im Augenblick keine Zeit. Aydrians endgültiger Abschied von Andur’Blough Inninness, glaubte sie, lag noch viele Jahre in der Zukunft – dass der junge Mann, eigentlich fast noch ein Knabe, sich just in diesem Augenblick auf hektischer Flucht aus Dassleronds Gefangenschaft befand, konnte sie nicht wissen –, während ihr Ziel unmittelbar vor ihr lag, vielleicht sogar dort unten, unter jener Säule aus grauem Rauch.
Sie beugte sich tiefer über Nestys Hals und spornte das Tier zu noch schnellerem Tempo an; kurz darauf erreichte sie den Grat einer Anhöhe und ließ das Pony anhalten; ein strahlendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
Und erlosch sogleich wieder. Denn dort unter ihr befand sich nicht etwa ein Lager der To-gai-ru, wie sie es aus der Erinnerung kannte, mit zu einem Kreis um eine große Feuerstelle angeordneten Rehhautzelten, frei auf den Weiden herumlaufenden Pferden, bewacht von in hoch gelegenen Ausgucken sitzenden Posten, die die für das Überleben der To-gai-ru so ungeheuer wichtigen Herden sicherten. Eigentlich hatte Brynn sogar damit gerechnet, hier oben auf dem nördlichen Grat auf den einen oder anderen Posten zu stoßen.
Doch die gab es nicht. So weit Brynns Augen reichten, gab es auch keine Pferde, die sich auf den Feldern tummelten, und erst recht keine Zelte. Die Siedlung unter ihr war kein provisorisches Lager der To-gai-ru, sondern eine richtige Siedlung mit festen Gebäuden und sogar einem Schutzwall mitsamt Graben und Befestigungsmauer, der sie ganz umschloss. Es gab aus Lehm und Holz errichtete Häuser mit Grasnarbendächern, die über freigeräumte Wege und Straßen miteinander verbunden waren und sich um einen Dorfplatz in der Mitte gruppierten. An diesem Platz stand, unmittelbar gegenüber von Brynn, das größte Bauwerk des Ortes, ein lang gezogenes, hohes Gebäude mit einem Schrägdach aus ineinander verschränkten Balken, die von der Stirn- bis zur Rückseite kleine Xe bildeten, sowie kleinen Türmen und Minaretten an allen vier Ecken.
Es war eine ziemlich auffällige Konstruktion, die Brynn in den nächsten Tagen noch sehr gut kennen und verachten lernen sollte.
Ihr Blick schweifte eine Weile über das Gebäude hinweg, wurde dann aber zur Seite hin abgelenkt, vom zweitgrößten Gebäude der Ansiedlung, einem langen, breiten und gedrungenen Bau, der von mehreren eingezäunten Bereichen umgeben war. Ganz offenkundig ein Stall, denn in den
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