Schattenelf - 5 - Die Unterwerfung
freiem Willen handelndes Wesen die Kraft aufbringt, uns vorübergehend aus den Klauen des Todes zu befreien?
Ein interessanter Gedanke, denn wenn er zutrifft, bergen die Edelsteine dann vielleicht einen Weg, wie ich dem Tod ein Schnippchen schlagen kann? Wie ich sogar länger leben kann als Lady Dasslerond, womöglich gar für immer? Enthalten die Edelsteine eine Möglichkeit, den Menschen um mich herum das ewige Leben zu bieten?
Herzog Kalas scheint dieser Auffassung zu sein, schließlich ist es der einzige Grund, weshalb er mir so ergeben dient. Einerseits weiß Kalas, dass ich ein Usurpator bin, der den Thron der Familie seines geliebten Freundes und Königs gestohlen hat. Kalas hasst meine Mutter und war gewiss kein Freund meines Vaters, außerdem ist – oder besser: war – der Herzog der unerschütterlichen Überzeugung, der Thron solle den wenigen Auserwählten vorbehalten bleiben, deren exquisite Erziehung sie auf das Amt des Königs vorbereitet. Trotzdem habe ich keinen Grund, an seiner Loyalität zu zweifeln – nicht einen Augenblick. Herzog Kalas ist ein fester Bestandteil meines Hofes, denn er war bereits durch meine Hand gestorben, als ich ihm das Leben wiedergab. Herzog Kalas, der schon vor langer Zeit den Glauben an die abellikanische Kirche und überhaupt jeden Glauben verloren hatte, glaubt in mir die Verheißung – oder doch zumindest die Hoffnung – auf Unsterblichkeit zu erkennen.
Er wird sich niemals gegen mich stellen.
Kann ich ihm seinen größten Wunsch erfüllen? Bin ich der Weg zu ewigem Leben? Ich weiß es wirklich nicht. Zweimal bereits habe ich mich auf ein Ringen mit dem Tod eingelassen, und in keinem der beiden Fälle war ich übermäßig beeindruckt von dem Griff, mit dem das Jenseits die Seele des Verstorbenen gefangen hielt. Und vielleicht ist da noch mehr, etwas Greifbares, Physisches – eine Einheit von Geist, Körper und Seele, der Schmerz und Alter nichts anhaben können. Der Schatten im Spiegel hat dementsprechende Anspielungen gemacht, hat mir mit leiser Stimme angedeutet, es sei mir dank der Kräfte des Hämatits möglich, diese Einheit zu erlangen, einen Zustand, der mich unerreichbar macht für Speere, Krankheit und sogar den Tod. Vielleicht werde ich meine Antworten finden, soweit es meine Unsterblichkeit und die der anderen betrifft. Vielleicht finde ich meine und überhaupt alle Antworten im Innern des Strudels eines Seelensteins.
Dies alles, fürchte ich, ist zu verwirrend, zu aufwühlend. In einem Punkt jedoch bin ich ganz sicher: nur die Großen, die Mächtigen werden in Erinnerung bleiben. Die Menschen, die über dem gemeinen Volk, ja sogar über den Königen stehen, sind es, von denen man noch nach Jahren, Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten sprechen wird.
Ich bin dazu bestimmt zu herrschen. Das weiß ich. Die Stimme auf dem Feld, ob es nun die Elbryans war oder lediglich ein Ausdruck meiner eigenen Gedanken, hat die Wahrheit gesagt. Lieber wäre es mir, wenn mein Triumphmarsch friedlich verliefe. Das Töten macht mir keinen Spaß. Aber ich weiß, ich bin im Begriff, die Welt unter meiner Führung zu einem besseren Ort zu machen. Ich weiß, bin ich erst König der gesamten Menschheit, wird die Welt endlich tieferen Frieden und größeren Reichtum kennen lernen als je zuvor. Dieses Ziel ist es wert, das Blut der Unwissenden zu vergießen. Wer also im Namen König Aydrians stirbt, opfert sein Leben für die Erschaffung einer besseren Welt.
Dieses Wissen, diese Zuversicht ist es, die es mir erlaubt, das Geschrei der Sterbenden zu überhören. In diesem Gefühl schicksalhafter Bestimmung erkenne ich meinen Weg auf der Straße des Lebens.
Aber da war noch eine andere Stimme, an jenem Tag auf dem Schlachtfeld vor den Toren von Palmaris. Als ich zögerte, stand jemand neben mir und rief mir etwas in Erinnerung.
Mittlerweile hat Sadye begriffen, warum mein Triumphmarsch so wichtig ist. Sadye, die kluge Sadye, kennt den grundlegenden Unterschied zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit, zwischen Leben und Überleben, zwischen stimulierender Erregung und sterbenslangweiliger Routine. Sie fürchtet sich vor nichts und scheut keine Herausforderung. Sie hat Marcalo De’Unnero an sich gebunden, weil er der Wertiger war, und nicht etwa trotzdem. Ihr ganzes Leben spielt sich in unmittelbarer Tuchfühlung zur Katastrophe ab, denn sie weiß, dass ein Mensch nur dort wirklich lebendig ist. Sie zwingt mich zu einer immerwährenden Gratwanderung, und je stärker der Wind,
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