Schattenelf - 6 - Der letzte Kampf
»Aydrian, unser König. Ich bin einfach nicht stark genug, mich dagegen zu wehren. Ich habe überhaupt keine Widerstandskraft mehr. Er ist stark, Roger, beängstigend stark!«
»Aus eben diesem Grund müsst Ihr auf der Stelle mit mir fliehen«, erwiderte Roger, hob den Kopf und erfasste die gesamte Gruppe der Gefangenen mit einem entschlossenen Blick. »Ich muss diesen Mann aus dem Verlies herausbringen. Er muss seine Stimme gegen König Aydrian erheben, und ich will verhindern, dass diese Stimme noch länger in seinem Namen missbraucht wird. Zum Wohl des wahren Königreiches möchte ich Euch alle jetzt um das denkbar größte Opfer bitten – dass Ihr als Gefangene hier zurückbleibt.«
Nicht wenige nahmen eine zornige Haltung an, es gab auch einige hitzige Diskussionen, doch Roger hatte ohnehin nicht vor, eine Antwort abzuwarten. Er sah zu Braumin, der einverstanden schien, dann verdrängte er jegliche Schuldgefühle aus seinen Gedanken und zog ihn unvermittelt fort, ohne weiter auf die wütenden Proteste zu achten.
Es machte Roger Flinkfinger durchaus zu schaffen, diese Männer in ihrer grässlichen Lage zurückzulassen, andererseits wusste er ganz genau, dass es einfach keine Möglichkeit gab, sie aus Chasewind Manor hinauszubringen. Einen winzigen Augenblick lang überlegte er, ihre Fesseln zu lösen, doch dann verwarf er auch diesen Gedanken. Was würde er damit schon erreichen? Für die Männer selbst gewiss nichts Gutes, auch wenn ihr vergeblicher Fluchtversuch vermutlich für eine willkommene Ablenkung gesorgt hätte.
Nein. Er würde diese Männer nicht opfern.
Er geleitete Braumin zur Treppe und anschließend hinauf zur Tür. Dort angekommen, hieß er ihn kurz warten und schlüpfte ins Zimmer.
Kurz darauf kehrte er zurück, zog die Tür weit auf und bat Braumin, ihm zu folgen.
Der Bischof erstarrte auf der Stelle, als er den sich am Boden windenden Mann sah, der sich in einer sinnlosen Geste an seine durchtrennte Kehle fasste.
»Was habt Ihr getan, Roger?«, fragte Braumin – oder versuchte es zumindest, ehe Roger ihn mit einer Geste auf den zweiten Soldaten zum Schweigen brachte, der tief schlummernd am Tisch saß.
»Zwingt mich nicht, noch einen Mann zu töten«, flüsterte Roger mit unüberhörbarem Bedauern in seiner gebrochenen Stimme. »Ich flehe Euch an.«
Die beiden durchquerten den Raum und bewegten sich durch die düsteren Flure von Chasewind Manor. Bischof Braumin folgte jeder Bewegung Rogers und musste sich des Öfteren hinter einen Vorhang oder Mauervorsprung ducken, um von den gelegentlich vorbeimarschierenden Soldaten nicht gesehen zu werden.
Sie hatten das Gebäude fast schon verlassen, als hinter ihnen ein Tumult losbrach. Erst hörte man das Fluchen des Gefangenenwärters, dann folgten Rufe, jemand sei ermordet worden.
»Lauft weiter«, bat Roger den Bischof, schob ihn vor sich her und drängte ihn zum Hinterausgang und schließlich hinaus in die Nacht, während immer mehr Soldaten ihre Verfolgung aufnahmen.
Sie rannten zur rückwärtigen Mauer. »Los! So macht schon!«, spornte Roger den Bischof an. Kaum hatte der den oberen Mauerrand mit beiden Händen gepackt, hievte Roger ihn auch schon hinauf. »Bruder Hoyet wartet drüben im Schatten auf Euch«, erklärte er. »Lauft zu ihm!« Mit einem letzten, kraftvollen Schubs stieß Roger den Bischof auf die Mauerkrone.
Braumin zögerte kurz, sah sich nach ihm um und reichte ihm die Hand.
Doch Roger, bereits im Begriff zurückzulaufen, schüttelte den Kopf. »Geht schon!«, forderte er ihn noch einmal auf. »So macht schon, beeilt Euch!«
Roger machte kehrt und lief in die entgegengesetzte Richtung. Er hatte den Innenhof noch nicht halb überquert, als er schon die Rufe der Wachen hörte und wusste, dass man ihn entdeckt hatte.
Also rannte er weiter, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Bischof zu bringen. Hastig bog er um die Ecke zur Vorderseite des Gebäudes – und machte sofort wieder kehrt und entfernte sich schleunigst in die entgegengesetzte Richtung. Um ein Haar wäre er einem Trupp Wachsoldaten in die Arme gelaufen.
Er hielt auf die nächstgelegene Mauer zu, musste aber erneut die Richtung wechseln, als ein weiterer Trupp wie aus dem Nichts auftauchte und ihm offenbar den Weg abschneiden wollte. Er wandte sich zur anderen Seite, doch mittlerweile waren die hinter ihm laufenden Soldaten ausgeschwärmt und hatten ihm sämtliche Fluchtwege abgeschnitten.
»Wartet!«, rief Roger ihnen zu, drehte sich
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