Schattenengel (Contoli-Heinzgen-Krimi)
dem Kühlschrank zu holen. Mit noch zitternden Beinen folgte ihm die Tochter. Sie blickte auf den Messerblock, genau in der Sekunde stand der Bruder Fabio neben ihr, erfasste sofort das Geschehene und zog ein Messer aus dem Block. Klaus, sein Freund, stand in der Tür und sah unter schreckensweiten Augen alles mit an. Später, nach einer längeren Weile, in der noch keiner vollständig erfasst hatte, was geschehen war, starrte die Mutter mit ihren Einkaufstüten aus der Diele durch die offenstehende Tür. Sie ließ die Tüten fallen, schrie auf und stürmte in die Küche. Sie sah ihre kleine wunderschöne Tochter mit vor Kummer eingefallenem Körper an. Der Anblick ihres Kindes sagte ihr sofort, dass etwas Furchtbares geschehen war und sie es nicht hatte verhindern können. Voll Mitgefühl nahm sie das Töchterchen in die Arme und drückte das Mädchen fest an sich.
„ Wir müssen die Polizei rufen«, zitterte Klaus Netts Stimme in die erdrückende Stille. Fabio fuhr herum, ging gefährlich langsam auf ihn zu, zog derweil ein weiteres Messer aus dem Block und hielt es ihm unter das Kinn. Das andere steckte noch im Rücken des toten Vaters.
„ Wir sind enge Freunde. Wir schweigen und schützen uns gegenseitig. Verstanden? Du hast nichts gesehen, nichts gehört und weißt von nichts. Du warst gar nicht hier,« drohte der Bruder ihm unter einem glühenden Blick. Klaus wurde noch kleiner, als er ohnehin schon war. Blass wie ein Laken nickte er und hob die Hand zum Schwur.
Fabio schlug vor, den Toten einfach wegzuschaffen. Die Mutter schüttelte den Kopf, wusste aber auch nicht weiter. Schließlich setzte Fabio sich durch. Gebot den anderen, zu warten und nichts zu unternehmen. Dann verschwand er mit seinem Freund Klaus. Nach gut einer Stunde kamen sie mit Onkel Laurentio zurück. Er war der Boss des Clans, dem auch der Vater angehört hatte. Onkel Laurentio zog das Messer aus dem leblosen Körper, beseitigte alle Spuren und ließ durch seine Männer die Leiche verschwinden. Auf seine Anweisung hin zog die Familie anschließend nach Italien. Dort kehrte zunächst Ruhe in die Gemüter. Aber schon bald war der Zustand des Mädchens nicht mehr zu verbergen. Es wurde zusammen mit der Mutter bis zu Paolas Geburt an einem geheimen Ort untergebracht. Erst, als der Säugling, zugleich Tochter als auch Schwester seiner Mutter, zwei Monate alt war, kehrten sie zurück und die Mutter gab es als ihr Baby aus. Nichts anderes hätten die Leute in dem kleinen italienischen Ort geglaubt, denn Laura war noch nicht einmal dreizehn Jahre. Nach einem weiteren Jahr, eines der schönsten im jungen Leben des Mädchens, erschienen die Carabinieri, zusammen mit einem Kripobeamten aus Deutschland. Hier hatte man inzwischen die Leiche gefunden. Die Justiz erwartete die Familie. So geschah es, dass die Mutter alles auf sich nahm, um ihren Sohn zu schützen ...
Laura tauchte aus ihren Erinnerungen auf. Während ihrer imaginären Schilderung hatte sie die Augen geschlossen gehalten. „Ja«, endete sie, öffnete ihre Lider, stand auf und lief umher. „Seitdem sind wir wieder in Deutschland, aber nicht mehr in Dortmund.« Sie lächelte dünn. „Da Paola und ich den gleichen Vater haben, war es gar nicht so verkehrt, sie als meine Schwester auszugeben. Und noch heute glaubt Paola, dass sie das auch ist.«
Laura musste sich eingestehen, sogar vor sich selbst zu feige gewesen zu sein, die ganze Wahrheit zu sagen. Sie saß noch immer wie ein giftiger Pfeil in ihrer Brust.
Nachdem sie eine ihrer Psychopillen eingenommen hatte, breitete sich allmählich ein gleichmütiges Gefühl in ihr aus. Wie unendlich viele Abende zuvor schritt sie die Wendeltreppe herunter zwei Etagen tiefer, den blauen Flur, wie sie ihn insgeheim nannte, entlang bis zur kalabrischen Küste bei Crotone. Einen Moment zögerte sie, bis ihr Finger auf den tiefblauen Meeresfleck drückte. Lautlos und sanft schob sich das Bild nach links und öffnete ihr den Eingang in die Unterwelt. Mit fragwürdigen Gefühlen nahm sie die erste der acht Stufen. Untermalt durch die leichte Backgroundmusik rollte sich dumpf das immer wieder neu belebende Gelächter der Gäste über die schmale Treppe hinauf zu Laura. Noch war sie von unten nicht zu sehen, und nahm auch sich selbst optisch nicht wahr, denn die Vergnügungsräume waren geschickt platziert. Zögerlich nahm Laura eine Stufe nach der anderen hinunter ins Reich des Bösen. Erst nach einem weichen Linksbogen am Ende der Treppe
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