Schattenengel (Contoli-Heinzgen-Krimi)
Ihre Hände fuhren in den Nacken. Eine Weile massierte sie gedankenverloren die schmerzende Stelle. Bevor Fabio aus ihrem Zimmer gegangen war, hatte er noch herausgepresst: „Der Scheißkerl hat sämtliche Finanzen eingesackt. Dieser Bastard!« Aus diesem Satz entnahm Laura, dass nicht allein ihr harmloses Vergehen ihren Bruder zur Raserei gebracht hatte. Wen hatte er mit Scheißkerl gemeint? Es fiel ihr nur einer ein, aber sie war sich nicht sicher.
Ich muss ruhig werden. Nur nicht weiter Öl ins Feuer gießen. Unten wartete Fabio auf sie. Für heute Abend war ein neuer Gast angesagt, dem sie sich widmen sollte. Laura hasste es. Einzig gut fühlte sie sich bei dem Gedanken, dass Klaus nicht mehr aufgetaucht war und er nichts von ihr fordern konnte. Unvermittelt dachte sie an das tote Mädchen und begann, mit den Zähnen zu klappern. In den folgenden Sekunden sackten ihre Schultern herunter als würde sich eine Tonnenlast über sie ergießen. Gestern Morgen erst hatte sie den mit Contoli unterzeichneten Artikel über die bisher erfolglosen Ermittlungen gelesen. Die Eltern des Mädchens glaubten fest daran, dass ihre Tochter nicht freiwillig im Übermaß Alkohol und Drogen eingenommen hatte, sondern dazu gezwungen und dann missbraucht und misshandelt worden war. Sie hatten eine Belohnung von 15.000 Euro für Hinweise ausgesetzt, die zur Klärung des Falles führten.
Laura erschauerte bei dem nächsten Gedanken. Sie hatte Fabio verschwiegen, dass vor einigen Tagen hier oben ein Aufgebot an Polizei mit Hunden herumgelaufen und die Gegend auf Spuren abgesucht hatte. Sogar an jedem vereinzelt gelegenen Haus hatten sie geklingelt, Fragen gestellt und ein Foto des toten Mädchens gezeigt. Bei dessen Anblick hatte Lauras Magen kurz davor gestanden, überzuschwappen. Dass Fabio von der polizeilichen Aktion noch nichts erfahren hatte, wo er doch sonst alles wusste, wunderte sie.
Ihre Tränen ließen sich nicht eindämmen. „Diese dauernde Heulerei«, fluchte Laura leise. Vornüber gebeugt saß sie in ihrem freizügigen Satin-Cocktailkleid von Chanel auf ihrem Bett und glaubte, eine Zementdecke drücke sie zusammen. Ihre Gedanken machten einen Sprung. Erinnerungen blitzten auf. Zunächst fern und nebulös, Geschehnisse, die sie mit aller Gewalt aus ihrem Bewusstsein vertrieben, die aber in letzter Zeit immer häufiger angeklopft hatten, kämpften sich vor und wollten beachtet werden. Laura dachte an Dr. Heinzgen. Wie nahe war sie daran gewesen, sich bei ihm auszusprechen. „Das nächste Mal mach ich es ganz bestimmt«, murmelte sie. Von plötzlicher Melancholie überfallen, erhob sie sich und ging zum Frisiertisch. Hier lag seine Kappe, die er ihr nach dem letzten Gespräch ausgeliehen hatte. Laura setzte sie auf und betrachtete ihr Spiegelbild. Nach einer gedankenverlorenen Weile stieg eine Idee in ihr auf. Augenblicklich setzte sie sich in einem der Sessel und positionierte im Geiste Dr. Heinzgen in dem anderen, der ihr gegenüberstand. Das würde eine gute Übung sein für die nächste Therapiestunde. Fabio konnte noch ein klein wenig unten warten.
„ Ich erzähle Ihnen jetzt von den Stunden meines Lebens«, begann sie leise zu sprechen, „die ich tief im Keller meiner Seele verbannt habe.« Unerträgliche Bilder entstanden in sekundenschnelle vor ihrem geistigen Auge und verschwanden wieder. „Ich berichte Ihnen von dem Ereignis, das unser aller Leben verändert hat. Und ich spreche von mir, aber ich meine mich nicht. Der unselige Tag glitt wie aus der Dunkelheit vor ihren Augen ins Licht ... viele, viele Jahre zurück.
„Laura ...!«
Durch den Ruf ihres Namens zuckte das 12-jährige, zierliche Mädchen zusammen wie unter einem Peitschenhieb, schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu zittern. Obwohl es noch Tag war, kam der Vater wie so häufig betrunken heim. Doch es konnte sich nicht in die schützenden Arme der Mutter flüchten. Sie war zum Einkaufen in den Supermarkt gegangen. Nur der größere Bruder des Mädchens, Fabio, hörte in seinem Zimmer mit seinem Freund Klaus Nett dröhnend laute Musik. Das Mädchen war in die Diele gerannt, kam aber nicht mehr dazu, die Tür des Bruders zu öffnen, um Schutz zu suchen. Der Vater packte es an den Zöpfen und zog die zappelnde Gestalt ins abgelegene Schlafzimmer. Er warf das Kind auf das noch ungemachte Bett. Ihre gequälten Schreie verhallten in der lauten Musik aus Fabios Zimmer.
Als es vorbei war, taumelte der Vater in die Küche, um ein Bier aus
Weitere Kostenlose Bücher