Schattenengel (Contoli-Heinzgen-Krimi)
Überraschung jedoch nicht anmerken. Den Teenager an Lauras Bett mit den wallend langen Haaren kannte sie nicht, aber den Herrn ...? Und plötzlich, jetzt hier in der Assoziation zum Krankenzimmer, regte sich ihr Hirn und schickte ihr die heute Morgen vergebens gesuchte Information. Der Herr hatte sich ihr erst vor Kurzem in diesem Raum vorgestellt. Klaus Nett. Dass sie ihn im Auto nicht gleich erkannt hatte, schob sie auf ihren aktuellen Zustand, meistens neben sich zu stehen. Ein Blick auf Laura genügte und Anke bemerkte allein schon an der Gesichtsfarbe, dass sich ihr Unfallopfer auf dem Weg der Besserung befand. Laura zeigte ihr sofort durch ihre abweisende Mimik, was sie von diesem neuerlichen Besuch hielt. Anke überging das mit gepanzerter Gleichgültigkeit, indem sie sich allmählich darüber klar wurde, was genau sie hierher getrieben hatte.
Die Lüge des Bruders.
Sie trat näher ans Bett. Klaus Nett erhob sich vom Besucherstuhl und schritt ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. Automatisch hielt auch Anke ihre zum Gruß hin, während sie sich dabei ertappte, wie sie unverhohlen auf das Feuermal im Gesicht des Mannes starrte. Rasch wandte sie ihre Augen ab. Aber im nächsten Moment glitten sie ebenso verhohlen über die feine, geschmackvolle Kombination aus edlem Zwirn, in der sein kurzer kompakter Körper steckte.
„ Ah, der Freund der Familie ...?«, in einem fragenden Ton brach sie ab.
„ Schön, dass Sie sich an mich erinnern«, schmeichelte Klaus Nett.
„ Bis zu einer Dauer von vierundzwanzig Stunden funktioniert mein Gedächtnis noch«, konterte Anke und lachte Laura zu, ehe sie auch ihr die Hand entgegen hielt. Doch Laura reagierte nicht. Anke zog ihre Hand zurück. Scheinbar gleichmütig fragte sie: „Wie geht es Ihnen?, Frau Koll.«
„ Besser«, kam es reserviert zurück.
Dem Teenager schien Lauras abweisende Haltung unangenehm. Das Mädchen lächelte sie an und zuckte kaum merkbar mit den Schultern, ehe sie Anke ihre Hand entgegen streckte.
„ Ich bin Paola Koll.« Sie nickte zu der Kranken. „Das ist meine ältere Schwester.«
Anke griff die Hand des Mädchens und sah sie herzlich an.
„ Das mit Ihrer Schwester tut mir wirklich leid, ich war die Verursacherin. Mich treiben wohl meine Schuldgefühle immer wieder hierher.« Sie schaute kurz zu Laura, ob sie ihre Erklärung wahrgenommen hatte. Aber die Frau verzog noch immer keine Miene. Eine leichte Röte stieg dem Mädchen ins Gesicht. Anke betrachtete Paola verstohlen. Ihr Teint schien leicht von der Sonne angehaucht, die Augen groß, mehr rund als oval, und dunkelbraun. Schaute sie geradeaus, hielt sie einen normalen Blick, doch sah sie zur Seite, geriet ihr linkes Auge etwas von der Bahn ab. Der leichte Silberblick wirkte reizvoll und verlieh ihrem Gesicht etwas kindlich Unschuldiges. Paola war von einer Schönheit, die einem den Atem verschlug. Eine Legierung aus den Vorteilen des Südens, gepaart mit dem intensiven blonden Kopfhaar ihrer germanischen Vorfahren.
Eine außergewöhnlich beeindruckende Mixtur, die die Natur da zusammengesetzt hat.
Das Mädchen verschob den Mund zu einem Lächeln, wobei sich der linke Mundwinkel abfällig herabzog. Erst jetzt fiel Anke diese Geste auf. Zum Beispiel, wenn sie ihre Schwester im Krankenbett betrachtete.
„ Sie konnten nichts für den Unfall«, ließ Paola nachsichtig, jedoch mit resolutem Ton verlauten, den Anke ihr nicht zugetraut hätte.
Lauras Schwester und der Freund der Familie hatten nach ihrem Weggang eine Lücke hinterlassen, die Anke nur schwer füllen konnte. Es war drückend still im Zimmer. Sie saß auf dem Stuhl vor Lauras Bett. Ich sollte gehen, schließlich bin ich nicht erwünscht. Vor ihr im Krankenbett hätte auch eine Tote liegen können, derart bewegungslos ruhte Laura in den Kissen. Ihr Arm steckte nicht mehr in der dicken Binde, sondern in einem luftigen Mullwickel. Anke betrachtete den rasierten Kopf, die verschieden platzierten Pflaster darauf, wie auch auf der Stirn und an den Schläfen. Mit dem vorherigen Kopfverband hatte Laura nicht so befremdlich auf sie gewirkt wie jetzt ohne. Einbildung? Auf Lauras linker Wange zeigte sich eine erhebliche dunkle Schwellung. Die weiteren Verfärbungen im Gesichtsbereich nahmen allmählich drastische Formen an. Bis sich alle Farbnuancen der Heilung durchgearbeitet hatten, würden noch einige Tage vergehen. Doch nichts von all dem lenkte von diesem Engelsgesicht ab, auf dem ein permanenter Schatten lag. Für Anke gab
Weitere Kostenlose Bücher