Schattenengel (Contoli-Heinzgen-Krimi)
Aknegesicht zögerte einen Moment, dann holte es Luft.
„ Ich bin arbeitslos, wissen Sie ...«
»Das tut mir leid.« Komm zur Sache.
„ Und da kann ich oft vor Sorgen nachts nicht schlafen, verstehen Sie?«
Anke nickte konspirativ.
„ Ich war beim Pinkeln.«
Anke zog amüsiert die Brauen hoch. Der junge Mann reagierte sofort.
„ Ähm, ich meine, ich war auf der Toilette.«
Anke grinste.
„ Und da sah ich sie laufen.«
„ W en sahen Sie laufen?« Ankes Stimme hatte einen starken Zug bekommen. „Meinen Sie das Mädchen da?« Sie zeigte zur Brücke. „Die Tote?«
„ Das weiß ich nicht, aber auf jeden Fall ein Mädchen. Ich dachte, es sei eine Flitzerin, es gibt ja so Bekloppte, sie hatte ja nur oben herum etwas an, das konnte ich genau sehen, ziemlich schlank, blonde lange Haare.«
Blond war sie und schlank ebenfalls, und dass die Leiche kaum bekleidet war, hatte ihr bereits der Glatzkopf berichtet. Anke erinnerte sich an seine Worte: „Die hat ausgesehen, als wäre sie gefoltert worden, aber im Tod hat sie gelächelt.« Doch dass das Mädchen vorher fast nackt durch die Straßen von Remagen gelaufen sein soll, schien fast unvorstellbar und war ihr neu. Vertrauen erheischend fasste sie erneut den Jeansjackenärmel und zog das Aknegesicht etwas zu sich heran. Nach der Aussage war er ihr sofort sympathisch geworden. „Sind Sie sicher?« wollte Anke noch mal wissen.
„ Absolut, ich habe eine hundertprozentige Sehschärfe, hat der Augenarzt erst bei der letzten Untersuchung bestätigt.«
„ Okay, okay, wo und wann haben Sie das Mädchen gesehen?«
„ Gegen halb vier morgens.«
Aber da ist es noch dunkel.«
„ Sie lief direkt unter der Laterne an der Ecke her, wahrscheinlich kam sie aus dem Viktoriabergweg raus. Ich wohne Hinterhausen.«
Anke sah ihn fragend an.
„ So heißt die Straße«, erklärte er sofort. „Unser Haus liegt höher als die anderen davor. So konnte ich aus dem Toilettenfenster im ersten Stock direkt auf die Laterne sehen.«
„ Ist Hinterhausen weit weg von der Brücke?«
„ Auf der anderen Seite der Bahnlinie, also, wenn man stramm geht und den direkten Weg nimmt, schätzungsweise zwanzig Minuten.«
Anke notierte sich seinen Namen und schoss hochzufrieden einige Fotos von dem Zeugen.
Ihr mobiler Navi, der bisher achtlos auf dem Beifahrersitz gelegen hatte, leitete sie in wenigen Minuten zu ihrem Ziel. Schon unterwegs war sie aufgeregt gewesen, als die Bergstraße auf dem Display erschien. Und jetzt stand sie vor der Laterne, blickte hinauf in den Viktoriabergweg, ging einige Schritte in Hinterhausen hinein bis zu dem benannten Haus. Ja, der Mann hatte Recht, von dort oben aus dem ersten Stock konnte man direkt auf die Laterne sehen und ein Teil der sich kreuzenden Straßen. Und plötzlich sprang wieder ein Name vor ihre Augen.
Laura Koll.
Sie war vom Remagener Plateau gekommen. Wie heißt das noch, verdammt, ah, Auf Kirres. Und wo ist dieses Mädchen jetzt hergekommen?
„ Irgendwie komisch«, murmelte Anke, während sie überlegte, ob sie den Viktoriabergweg hinaufstapfen sollte, nachdem sie das Schild Sackgasse erspäht hatte. Ich brauche das Gebiet im Überblick. Im Handy Google Maps aufrufen?
Sie verschaffte sich einen ersten Überblick über Remagen und sein umliegendes Gebiet. Mit dem Zeigefinger fuhr sie den Weg entlang, den sie vor einigen Tagen mit Sandra zum Hubertushof hochgefahren war. Merkte sich den Reiterhof als auch das Anwesen der Kolls. Anschließen suchten ihre Augen sämtliche Möglichkeiten ab, wie man von dort oben heruntergelangen konnte. Anke war beeindruckt. Laura war damals ganz schön gelaufen. Eine Weile starrte Anke auf den vergrößerten Ausschnitt des Ortes. Das Aknegesicht hatte gesagt, das Mädchen sei seiner Meinung nach aus dem Viktoriabergweg gekommen. Mit den Augen fuhr sie den Weg nach und stöhnte auf. Es boten sich so viele Möglichkeiten, wo sie hätte hergekommen sein könnte. Anke atmete resigniert durch. Hoffnungslos. Was tun jetzt?
Zunächst schaute sie auf die Uhr. Es war erst Viertel nach zehn. Während sie in Gedanken ihren Artikel formulierte, fuhr sie ein Stück die Bergstraße hoch, bog, ohne zu überlegen in die Waldburgstraße und landete einige Zeit später oben Auf Kirres . Als sie um die dicke Eiche herum nach links fuhr, war der Beitrag in ihrem Kopf gespeichert. Sonnenstrahlen fluteten über die Felder und ließen die noch grünen Halme des Gerstenfeldes, das direkt am Einfahrtsweg zum Koll-Haus
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