Schattenfall
Stadttore passen würde: ein riesiger Obelisk für Momemns Tempelbezirk Cmiral. Als das Monument an ihm vorbeizog, glaubte er, die erregende Wärme des besonnten Basalts zu spüren, die vom enormen Sockel und vom gewaltigen Profil seines Gesichts abstrahlte, dem schrecklichen Gesicht von Ikurei Xerius III. an der Spitze des Obelisken. Tiefe Rührung ergriff ihn, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Er stellte sich vor, wie das Denkmal mitten im Tempelbezirk vor den staunenden Blicken Tausender aufgestellt wurde. Bald wäre das kaiserliche Antlitz für alle Zeiten der weiß glühenden Sonne zugewandt. Was für ein Heiligtum!
Seine Gedanken tanzten vor Begeisterung. Ich werde unsterblich sein…
Er kehrte zu seinem Sofa zurück und ließ sich darauf nieder, um die wild lodernden Gefühle der Hoffnung und des Stolzes bewusst auszukosten. Süße, selige Eitelkeit!
Da sagte seine Mutter: »Das Ding sieht aus wie ein riesiger Sarkophag«, und hatte ihm damit einmal mehr die Natter der Wahrheit ans Herz gesetzt.
8. Kapitel
MOMEMN
Könige lügen nie. Sie behaupten einfach, alle Welt irre sich.
Sprichwort aus Conriya
Wer die Götter wirklich versteht – sagen die Weisen von Nilnamesh –, sieht in ihnen nicht Könige, sondern Diebe. Diese Erkenntnis gehört zu den klügsten Gotteslästerungen, denn wir sehen stets den König, der uns betrügt, nie aber den Dieb.
Olekaros: Bekenntnisse
IM NORDEN DER STEPPE JIÜNATI, HERBST 4111
Yursalka vom Stamm der Utemot schreckte aus dem Schlaf.
Da war doch ein Geräusch gewesen…
Das Feuer war verglommen. Ringsum war es pechschwarz. Regen trommelte auf die Zelthäute. Eine seiner Frauen stöhnte und hantierte mit ihren Decken herum.
Dann hörte er es wieder. Ein Pochen gegen den Zelteingang. »Ogatha?«, flüsterte er heiser. Einer seiner jüngeren Söhne war am Nachmittag losgezogen und noch nicht zurückgekommen. Sie hatten vermutet, er sei vom Regen überrascht worden und werde heimkehren, wenn es nicht mehr schüttete. Das hatte Ogatha schon früher getan. Dennoch war Yursalka besorgt.
Dieser Junge trieb sich ständig in der Gegend herum.
»Oggie?«
Nichts.
Wieder ein Pochen.
Eher neugierig als beunruhigt strampelte Yursalka die Beine frei und kroch nackt zu seinem Breitschwert. Er ging davon aus, das sei nur Oggie, der sich mal wieder einen Scherz erlaubte, doch für die Utemot waren die Zeiten hart geworden. Man konnte nie wissen.
Durch einen Schlitz im kegelförmigen Zeltdach war ein Blitz zu sehen, und einen Moment lang erschien ihm das hereintropfende Wasser als Quecksilber. Der anschließende Donner ließ Yursalka die Ohren klingen.
Dann pochte es wieder. Er wurde nervös, schlich sich behutsam zwischen seinen Kindern und Frauen hindurch und hielt am Zelteingang einen Moment lang inne. Der Junge war wirklich ein Schlingel, und Yursalka liebte ihn dafür abgöttisch. Aber das Zelt seines Vaters mitten in der Nacht mit Steinen zu bewerfen – war das noch ein harmloser Streich?
Oder schon Bosheit?
Yursalka knetete mit der Hand am Knauf seines Schwerts herum und zitterte. Kalter Herbstregen strömte und strömte zur Erde. Noch ein stummer Blitz, dem ohrenbetäubender Donner folgte.
Er band die Klappe vor dem Zelteingang los und schob sie langsam mit dem Schwert beiseite. Nichts zu sehen. Alles schien im Regen zu versinken, der auf den Schlamm und in die Pfützen rauschte und wie das Strömen des Kiyuth klang.
Geduckt trat Yursalka in den Wolkenbruch hinaus und biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Mit den Zehen ertastete er im Schlamm einen Stein, hob ihn auf, konnte aber so gut wie nichts erkennen. Doch er merkte, dass es kein Stein war, sondern ein schmales Stück luftgetrocknetes Fleisch oder vielleicht sogar wilder Spargel…
Wieder ein Blitz.
Zunächst konnte er nur die grelle Helligkeit wegblinzeln. Mit dem Donnerschlag erst begriff er, was er gesehen hatte.
Einen Kinderfinger… Er hielt einen abgeschnittenen Kinderfinger in der Hand.
Oggie?
Fluchend warf er den Finger in den Matsch und spähte wild in die Dunkelheit ringsum. So groß Zorn, Trauer und Schreck auch waren – größer noch war seine Fassungslosigkeit.
Das kann unmöglich wahr sein!
Ein blendender Riss zuckte durch den Himmel, und einen Moment lang konnte er alles erkennen: den öden Horizont, die ausgedehnten Weiden in der Ferne, die ringsum aufgebauten Zelte seiner Stammesbrüder und die einzelne Gestalt, die nur
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